6. Jan. 2011

MDD

Direkte Demokratie in der Schweiz


Die Schweiz wird oft als Mutterland der direkten Demokratie bezeichnet. Stimmt das?

Wie manches Klischee stimmt auch dieses nicht. Die Schweiz ist vielleicht der erfolgreichste Schüler der direkten Demokratie mit der reichsten Erfahrung und den längsten und umfassendsten Bemühungen, die direkte Demokratie auf allen Ebenen des Staates einzurichten. Doch das Mutterland ist Frankreich. Es hat sein Kind jedoch schnell verlassen. Der grosse Schöpfer der direkten Demokratie ist der Marquis de Condorcet, der 1791 im ersten (girondistischen) Verfassungsentwurf der Französischen Revolution das Gesetzes- und Verfassungs-Referendumsrecht eingerichtet hat. Bezeichnenderweise sind erst dieses Jahr seine wichtigsten Schriften einem breiten deutschen Publikum zugänglich gemacht worden (Berliner Akademie-Verlag). Er war der grosse Kollege des zweiten Pioniers der direkten Demokratie, des US-Amerikaners und Ideologen der US-Revolution, Thomas Paine (common sense). Beide prägten in Frankreich die revolutionäre Mitte und setzten sich im Unterschied zu den Jakobinern für partizipative Bürgerinnen- und Bürgerrechte ein.

Warum konnte sich gerade in der Schweiz die direkte Demokratie so sehr etablieren?

Die fortschrittlichsten Kantone realisierten in liberalen Revolutionen schon anfangs 1830 die Volkssouveränität und die liberalen Freiheitsrechte aus der Französischen Revolution. 1848 ist dann in der Schweiz, auch dank der anderen revolutionären Europäer, die einzige grosse liberale Revolution gelungen und die Älteste umfassende repräsentative (Männer-)Demokratie in Europa eingerichtet worden - sogar mit einem obligatorischen, doppelten Verfassungsreferendum. Doch diese repräsentative Demokratie der Liberalen vergass zwischen 1848 und 1865 wesentliche Bedürfnisse und Interessen vieler Bauern, Handwerker und Arbeiter. Deshalb verlangten diese in ihnen wichtigen Angelegenheiten der Gesetzgebung und der Verfassungsentwicklung das letzte Wort. Es war diese riesige breite Demokratiebewegung aus dem Volk, welche die Schweiz zum heute direktdemokratischsten Land der Welt machte. Die Vielfalt der Schweizer Gesellschaft, die Tradition der autonomen Kommunen, föderalistische Machtteilung, die dezentrale Struktur des Bundesstaates, das Fehlen alter Adelsmächte und Könighäuser und schliesslich der Respekt, den die direkte Demokratie den Bürgerinnen und Bürgern und deren Urteilsfähigkeit entgegenbringt, sowie der entsprechende Wille aller Beteiligten haben dies möglich gemacht. Nach dem Ja zur Minarett-Initiative kam nun auch ein Ja zur Ausschaffungsinitiative. Wie ist das historisch einzuordnen?

Diese beiden Volksinitiativen gehören zu den sechs Vorstössen aus dem Volk seit 2000, welche die Menschenrechte verletzen. Wie in Dänemark, Österreich und den Niederlanden ist auch in der Schweiz in den letzten 25 Jahren eine starke nationalkonservative Partei (SVP) entstanden. Diese bedient sich auch der Volksrechte. Seit zehn Jahren formuliert sie ihre Anliegen nicht mehr grundsätzlich, wertespezifisch und abstrakt, sondern spielt gleichsam auf den Mann, gegen die Immigranten, gegen die Muslime, gegen alle, die anders sind und ein falsches Bild der heimeligen Nation stören.
Dabei ignorieren sie die Grundrechte aller Bürger, die Grundlagen des schweizerischen Verfassungsrechtes ebenso wie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Soziologisch setzt sich die Wählerschaft der SVP aus zwei sehr unterschiedlichen Gruppen zusammen: Einerseits viele Kleine Leute vor allem vom Land, die verängstigt sind, eher zu den schlecht ausgebildeten gehören, denen es nicht wohl ist in ihrer Haut, oft auch Benachteiligte der Wirtschafts- und Finanzkrise; andererseits Leute des höheren, technischen Mittelstandes, welche den Staat als störend empfinden, die Steuerlast beklagen, sehr egoistisch und selbstbezogen denken. Im Parlament werden vor allem die Interessen der zweiten Gruppe vertreten, in der Wählerschaft überwiegt die erste Gruppe.

Sind die Schweizer ausländerfeindlicher als Bürger anderer europäischer Länder?

Es gibt in den meisten EU-Ländern etwa 20 bis 30 Prozent nationalkonservative, tendenziell fremdenfeindliche Kräfte. Die Schweiz ist diesbezüglich keine Ausnahme, nur können sich diese Kräfte in der Schweiz dank der direkten Demokratie besonders Gehör verschaffen. Deswegen sind sie in der Schweiz sichtbarer als anderswo. Doch wir müssen uns in ganz Europa fragen, weshalb wir mit so starken neonationalistischen, nationalkonservativen Kräften konfrontiert sind, die schon manche Regierung prägen und noch stärker zu werden scheinen.

Muss an der schweizerischen Direktdemokratie etwas geändert werden?

Die direkte Demokratie in der Schweiz ist seit 30 Jahren nicht mehr renoviert und modernisiert worden. Sie bedarf tatsächlich einer sanften Renovation zu ihrer Stärkung und Verfeinerung: Primär geht es darum, ihr Verhältnis zu den Grundrechten und der EMRK besser auszubalancieren. Wenn wir weiter über die Dinge abstimmen, in denen es gar nichts zu entscheiden gilt, dann würden wir die direkte Demokratie diskreditieren. Denn wenn eine Mehrheit für eine Vorlage stimmt, welche die Menschenrechte verletzt, dann kann ein Betroffener im Anwendungsfall letztlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg Recht bekommen und so sich dem Mehrheitsentscheid widersetzen.
Dies bedeutet, dass die Mehrheit sich nicht durchsetzen, beziehungsweise deren Wille nicht umgesetzt werden kann. Das frustriert diese Mehrheit aber auf lange Sicht und untergräbt so die Integrationskraft, die Legitimität und die Wirkung der direkten Demokratie. Deshalb müssen wir dies vermeiden und dafür sorgen, dass keine Vorlagen zur Abstimmung kommen, welche die Grund- und Menschenrechte verletzen.
In Deutschland würde ein Verfassungsgericht schon die Lancierung einer solchen Initiative verhindern, in Kalifornien erklärt das Verfassungsgericht eine solche Initiative nach der Abstimmung für teilweise oder ganz ungültig. In der Schweiz haben wir den richtigen Moment und die richtige Instanz zur Verhinderung einer solchen Abstimmung noch nicht gefunden. Es gibt aber einen konkreten Vorschlag: Die Ungültigkeitsgründe von Volksinitiativen in der Verfassung müssten erweitert werden. Zudem sollte diese Gültigkeit auch vom Bundesgericht beurteilt werden und nicht mehr vom Parlament. Drittens müssen die Kompetenzen des Bundesgerichtes erweitert werden, so dass die schweizerischen Verfassungsgrundsätze besser geschützt werden gegenüber den Gesetzen und gegenüber Volksinitiativen. Alle drei Perspektiven werden derzeit in der Schweiz an verschiedenen Orten heftig diskutiert und dürften in den kommenden Jahren auch Gegenstand von Reformen werden.
Andererseits müssen wir allen Parteien und auch vielen Trägern von Volksinitiativen und Referenden ermöglichen, sich besser und mehr Gehör zu verschaffen, bei Bürgerinnen und Bürgern sowie bei der politischen Öffentlichkeit. Zudem bedarf es Regeln zur Transparenz und zum Ausgleich der in Abstimmungen investierten Geldmittel; denn wenn der Meinungsbildungsprozess vor dem Volksentscheid unfair und schief ist, kann das Abstimmungsergebnis nicht überzeugen, es fehlt ihm an Legitimität und Integrationskraft. Schliesslich muss sich vor allem die deutsche Schweiz überlegen, wie sie ihre defekte politische Öffentlichkeit - so etwas wie das Rückgrat der direkten Demokratie -reparieren kann, damit die Seele der direkten Demokratie, die Deliberation und Diskussion, wieder möglich wird und das bessere Argument überhaupt gehört und von allen zur Kenntnis genommen werden kann.

Welche Aussichten auf Erfolg haben diese Reformvorschläge? Wann rechnen Sie mit einer Umsetzung?

Immer mehr Kräfte sind sich des Reformbedarfs bewusst. Wie weit die Reformen gehen werden, ist noch unklar. Doch schliesslich werden auch darüber Volksmehrheiten entscheiden. Denn die Nationalkonservativen werden jede Reform zur Demokratisierung der direkten Demokratie mit Referenden bekämpfen. Wir müssen also argumentativ noch mehr und besser überzeugen. Dazu benötigen wir viel Zeit und deshalb kann in einer direkten Demokratie nie jemand sagen, wann solche Reformen umgesetzt sein werden.


Kontakt mit Andreas Gross



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