10. Feb. 2007

Der Standard
Wien

Die schlimmste These:
Der russische Staat hat keine Gewalt mehr
über die verschiedenen regionalen Polizisten
und Geheimdienste


Standard: Die russischen Behörden haben Zahlen vorgelegt, mit denen sie untermauern wollen, dass sich die Sicherheitslage in Tschetschenien deutlich verbessert hat – 2006 soll es «nur noch» 50 Entführungen gegeben haben.

Gross: Es ist klar: 50 Leute sind 50 zu viel. Wenn in Wien in einem Jahr 50 Menschen verschwinden – und man kann von der Bevölkerungsgröße Wien und Tschetschenien vergleichen – dann ist das ein Wahnsinn. Aber man muss zugeben, in Tschetschenien sind im vergangenen Jahr dreimal weniger Menschen entführt worden als im Jahr davor. Auch die Kriminalität ist deutlich zurückgegangen.

Das sind die offiziellen Zahlen, aber vor allem die Zahl der Verschwundenen kann man glauben. Die russischen Behörden sind der Wahrheit näher gekommen, weil sie eingesehen haben, dass die NGOs Einblicke haben, gegen die sie sich nicht wehren können und arbeiten deswegen zumindest quantitativ mit ihnen zusammen. Es gibt also einen klaren Trend zum Besseren. Es sind endlich Häuser und Straßen gebaut worden, die Trümmer von den Kriegszerstörungen werden weggeräumt. Viel mehr Leute haben eine anständigere Unterkunft als vor zwei, drei Jahren. Das muss man anerkennen. Aber wer kann in diese neuen Häuser? Wer bekommt die Jobs? Muss ich dafür dreimal am Tag sagen: «Der Herr Premierminister ist der beste Mensch auf der Welt?» Solche Slogans, «Ramsan ist der Größte», «Wir danken Ramsan», stehen ja tatsächlich überall. Wie lebt es sich für jemanden, der ganz anderer Meinung als Ramsan Kadyrow ist? Das ist die entscheidende Frage. Die traue ich mich nicht positiv zu beantworten. Davon hängt ab, ob und vor allem wann man den nächsten Runden Tisch des Europarats zu Tschetschenien in Grosny abhalten kann, so, wie das beschlossen worden ist.

Mitte Jänner ist das Angebot zur Amnestie an die Rebellen ausgelaufen. Was hat es gebracht?

Viele Leute haben sich in den vergangenen sechs Monaten ergeben. 600 ist eine Zahl, die auch der FSB nennt. Aber das ist keine Amnestie in unserem Sinne. Die ergeben sich alle aus mehr oder minder großem Zwang, aber nicht weil es Bemühungen um Versöhnung und Reintegration gibt. Die Pressionen, die auf die Verwandtschaft ausgeübt werden, sind enorm.

Inwieweit hat die Ausschaltung des Unabhängigkeitskämpfers und Terroristen Shamil Bassajew vergangenen Sommer die Lage in Tschetschenien verändert?

Nicht nur Bassajew, auch Aslan Maschadow und dessen Nachfolger wurden umgebracht. Das ist inakzeptabel. Russland hat kein Recht, Leute einfach umzubringen. Niemand hat ein Recht dazu. Wenn man überzeugt ist, dass es Kriminelle sind, dann stellt man sie vor Gericht. Maschadows Nachfolger war ein jüngerer, eher theologisch geprägter Mensch, kein Guerilla. Aber diese Morde haben der tschetschenischen Führung und den Russen unglaublich Oberwasser gegeben. Jetzt sagen sie, es gibt gar keine Kämpfer mehr. Natürlich gibt es sie noch. Sie sind natürlich weniger geworden, sie sind nicht mehr in den Bergen, sie haben keine territorialen Hochburgen mehr. Taktisch gleichen sie eher Maoisten, ohne es vielleicht zu wissen. Die sind mitten im Volk. Den Nachfolger Maschadows hat man im Dorf erwischt, als er auf ein Fest gehen wollte.

Diese militärischen Erfolge, diese Gewalterfolge haben der tschetschenischen Führung einen wenig verantwortungsbewussten Hochmut gegeben. Sie wollen den runden Tisch, den so genannten Dialog. Aber wenn sie sagen, es gibt gar keine anderen Leute, dann führen sie den Dialog mit sich selbst. Es ist vielleicht naiv, dies zu fordern: Aber Kadyrow müsste bereit sein, als Premierminister Anklagen zu akzeptieren, dass er früher einmal gefoltert hat.

Sie glauben, dass Kadyrow sich ändern könnte?

Das ist eine christliche Frage. Wenn Sie die Frage so stellen, muss ich sie auch christlich beantworten. Selbstverständlich darf ich als Christ nie ausschließen, dass sich jemand bessert. Aber als Politiker ist man verantwortlich für vergangene Taten, selbst wenn man sich bessert. Kadyrow würde sich vielleicht einer Versöhnungskommission stellen, wenn er weiß, dass er andernfalls nie mehr Macht haben würde.

In welchem Maß greift der Tschetschenien-Konflikt schon auf die anderen Republiken im Nordkaukasus über?

Es gibt ja die These, dass es in Dagestan bereits schlimmer ist als in Tschetschenien. Einer der klügsten Leute auf der Moskau-Seite, Putins Sondergesandter für den Süden Russlands, Dimitri Kosack, hat schon lange gesagt, dass Tschetschenien heute ein regionales, nicht nur ein lokales Problem ist. Auf der anderen Seite, glauben die Tschetschenen, dass sie sich gestatten dürfen, auch außerhalb ihrer Republik „aufräumen“ zu dürfen. Personen, die der tschetschenischen Führung missliebig sind, werden in Dagestan, Moskau oder in Petersburg umgebracht. Kadyrow sagt, er könne auch in Georgien „aufräumen“. Eine der Theorien über die Mörder von Anna Politkowskaja ist ja, dass es tschetschenische Polizisten waren, die vielleicht sogar ohne Wissen des Kreml in Moskau Oppositionelle erschießen. Das ist die schlimmste These: Dass Putin gar nicht weiß, wer es war, und der Staat gar keine Gewalt hat über die verschiedenen regionalen Polizisten und Geheimdienste.

Für wie realistisch halten Sie das?

Für eher realistisch. Das beschäftigt mich auch sehr. Das heißt, es gibt eine Proliferation von Gewaltstrukturen. Die Krise der politischen Zentralmacht besteht darin, dass sie diese Gewalt gar nicht kontrolliert. Tschetschenien ist ein regionales Problem, das nicht mit militärischen Mittel zu lösen ist. Man kann ja nicht alles besetzen.

Ist Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow für den Kreml die derzeit beste aller Welten?

Nein, das ist eine ganz heikle Angelegenheit. Es besteht das Risiko, dass dieses Regime aus dem Ruder läuft und die tschetschenische Führung gewissermaßen zu umgekehrten Autonomisten wird. Man kann sich in Moskau nicht auf ein Regime verlassen, dass Menschenrechte mit den Füßen tritt. Die Überlegung des Kreml war bisher: Man riskiert weniger eigene Soldaten, wenn man Macht und Verantwortung auf eine tschetschenische Regierung überträgt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine neue Separatismusbewegung entsteht, die dann noch weniger rechtstaatlich ist als während der Zwischenkriegszeit 1996 bis 2000. Da hat man dann einen Hort, wo Unrecht sich weiterproduziert und sich in unseren Hauptstädten als Terror sichtbar machen kann. Al-Kaida kann sich auch dort verstecken, wenn Ramsan sich gegen Russland wendet. Es ist unvorstellbar, was dort an Brutalität und Hemmungslosigkeit steckt.

Mehr und mehr Russen und Tschetschenen gewinnen Prozesse vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen ihren eigenen Staat. Was bedeutet das?

Das ist für sie eine ungeheure Hoffnung und Erfahrung. Aber die Schamlosigkeit besteht darin, dass Leute umgebracht worden sind, weil sie nach Straßburg gegangen sind. Das ist das Schlimmste, was wir uns vorstellen können. Aber dass es den Gerichtshof gibt und dieser sich traut, das russische Militär an seine Verantwortung zu erinnern, das ist Gold wert. Hier zeigt sich auch, dass der Beitritt Russlands zum Europarat Sinn gemacht hat. Der russische Staat ist auch durchaus verantwortungsbewusst bei der Umsetzung der Gerichtsurteile, vor allem wenn es um die Auszahlung von Entschädigungen geht.

Aber es gibt ja keinen Lernprozess beim russischen Militär, wie man sieht.

Ich habe diese Woche Leuten zugehört, die sagen, die russischen Gerichte nehmen diese Prozesse sehr ernst. Denen ist die Rechtsprechung viel bewusster, viel ernster, als wir vielleicht meinen. Das Militär ist glücklicherweise nicht mehr in einer Schlacht, in der es jetzt beweisen könnte, wie viel es wirklich gelernt hat, wir können da nur hoffen.

Wie viel Operationsraum bleibt dem Europarat eigentlich noch gegenüber der EU und deren Nachbarschaftspolitik?

Unser größter Vorteil ist: Russland empfindet die EU nicht nur als fremde, sondern tendenziell sogar als feindliche Organisation. Fast so wie die Nato. Im Europarat aber fühlt sich Russland zu Hause, es betrachtet ihn als seine eigene Organisation. Und die eigenen Leute lässt man immer viel weiter gehen. In der Versöhnungsarbeit, in der Rekonstruktionsarbeit, in der Software kann der Europarat viel mehr leisten. Die EU hat mehr Geld, aber optimal ausgeben kann es in diesen Bereichen der Europarat.


Kontakt mit Andreas Gross



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