30. Nov. 2006

NZZ

Widersprüchliche Lage in Tschetschenien
Eindrücke des Schweizer Europarat-Berichterstatters Andreas Gross


Die Reise einer Delegation des Europarats nach Tschetschenien ergab ein durchzogenes Bild. Den Fortschritten beim Wiederaufbau stehen weiterhin die Defizite bei der Sicherheit und der Einhaltung der Menschenrechte gegenüber. Ein neuer runder Tisch ist in Planung.

mac. Zu Wochenbeginn hat eine Delegation der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, wie gemeldet, einen Besuch in der russischen Nordkaukasus-Republik Tschetschenien beendet. Die Parlamentarier weilten in der Hauptstadt Grosny sowie in der Stadt Gudermes und konnten seit langem wieder den gebirgigen Süden besuchen. Die Reise fand zunächst deshalb einige Beachtung auch in den russischen Nachrichtenagenturen, weil Delegationsmitglieder erstmals über positive Eindrücke berichteten. Es gebe tatsächlich Fortschritte zu vermelden, erklärte der Schweizer Nationalrat und Berichterstatter des Europarats für eine politische Lösung in Tschetschenien, Andreas Gross, nach Abschluss der Reise gegenüber der NZZ. Die Bilanz sei aber durchzogen, und eine differenzierte Sichtweise angesichts der Widersprüchlichkeiten tue not.

Neue Häuser und Strassen - weiter Gewalt

«Das neue Stadtbild von Grosny ist im Unterschied zur Trümmer- und Ruinenstadt vor einem Jahr frappant», sagte Gross; neue Wohnungen, Strassen, Plätze und Parks seien entstanden, und Tausenden ehemaligen Flüchtlingen und bedrängten Familien gehe es besser. Der Wiederaufbau konzentriere sich vor allem auf die drei grossen Städte Grosny, Gudermes und Argun. Gross fiel aber auch in der Ortschaft Schatoi im Süden ein neues Spital und ein provisorisches Schulgebäude auf, in dem nach seiner Auskunft viermal mehr Schüler am Unterricht teilnähmen, als die Behörden gedacht hätten. Getrübt wird dieser sichtbare materielle Fortschritt durch die weiterhin deplorable Wirtschaftslage; die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, die Aufwendungen der Republik werden hauptsächlich aus Moskau finanziert. Es mangelt an privaten Investitionen.

Erstaunt äusserte sich Gross über die Bereitwilligkeit offizieller Stellen in Moskau und Grosny, über Opferzahlen im Zusammenhang mit Gewalttaten im laufenden Jahr zu sprechen. Allerdings widersprechen sich die Angaben etwa über die Zahl der Entführungsfälle. Als das 6laquo;ganz grosse Trauma» in der tschetschenischen Gesellschaft bezeichnete Gross den Umstand, dass das Schicksal von mehr als 4000 Personen ungeklärt sei und dass die Verzweiflung vor allem bei Müttern und Ehegattinnen Verschwundener über die unzureichenden Auskünfte, Untersuchungen und über die Straflosigkeit sehr gross sei.

Ein neuer runder Tisch

In Gesprächen mit der Republiksführung erörterte die Delegation des Europarats auch die Vorstellungen von einem weiteren runden Tisch, der diesmal in Grosny stattfinden soll. Gross betonte aber, dass dieser nur dann zustande kommen werde, wenn sich - im Unterschied zur ersten Auflage 2005 - alle Beteiligten ohne Furcht vor Drangsalierungen durch die Behörden frei und kritisch äussern könnten. Der Kreis der Teilnehmer müsse überdies grösser werden und Vertreter aller Gruppen, die Gewalt ablehnten und Tschetschenien als autonomen Bestandteil der Russischen Föderation anerkennten, umfassen. Der Republiks- und der Parlamentspräsident seien offener als auch schon. «Vielleicht ist wirklich etwas Überraschendes möglich», meinte Gross. Für ein Datum sei es jetzt jedoch noch zu früh.


Kontakt mit Andreas Gross



Nach oben

Zurück zur Artikelübersicht