29. Nov. 2006

Korrespondenz
mit der NZZ

«Die sozialen Beziehungen wieder aufzubauen ist noch viel schwieriger als der Wiederaufbau von zerstörten Wohnungen.»

Die Fragen stellte Markus Ackeret, NZZ

Welche Schauplätze konnten Sie mit Ihrer Delegation besuchen? Waren Sie auch ausserhalb Grosnys unterwegs?

Selbstverständlich. Wir waren dreimal in Gudermes unterwegs, der zweiten der drei grösseren tschetschenischen Städte, sowie zweimal in Grosny und erstmals seit Jahren durften wir auch in den südlichen Teil der Berge fahren, nach Schatoi, unter besseren Umständen eine Art kaukasischer Bergkurort mit etwa 14'000 Einwohnern, in dem etwa sechs Täler zusammenkommen, in Sichtweite von Schneebergen, die bis 5000 Meter hoch sind, wenige Wald- und Fels-Kilometer von der georgischen Grenze entfernt und mit dem Auto etwa eine Stunde von Grosny weg. Anschliessend fuhren wir drei Stunden weiter bis zur Hauptstadt Dagestans – auch da sieht man einiges von Land und Leuten.

Ein Delegationsmitglied spricht von erstmals erkennbaren Fortschritten beim Wiederaufbau. Woran kann man das konkret festmachen? Hat sich das Stadtbild Grosnys markant verändert? Gehen diese Massnahmen über Kulissenbau hinaus? Und kommt er der breiten Bevölkerung zugute? Schliesslich: Gibt es im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau Unterschiede zwischen der Hauptstadt und anderen Siedlungen?

Das neue Stadtbild ist im Unterschied zur Trümmer- und Ruinenstadt, mit der wir noch vor genau einem Jahr konfrontiert waren, wirklich frappant. Auf etwa 150'000 Quadratmetern neue grosse Siedlungen, grosse neue Pärke und Plätze, selbstverständlich mit nicht wertfreien Denkmälern und Monumenten, breite, neue asphaltierte Strassen mit moderner Beleuchtung und einem etwa um das siebenfache intensiveren Autorverkehr und die im entstehen begriffene neue, offenbar grösste Moschee Europas: Diese baulichen Veränderungen sind tatsächlich markant; selbstverständlich sind auch immer wieder noch ruinierte Wohnhäuser erkennbar, doch viele Trümmerhaufen sind wirklich endlich abgeräumt und in den neuen Wohnblöcken sind abends Lichter und Menschen zu erkennen – auch wenn noch nicht alle neuen Wohnungen belegt sind. Vielen Tausend ehemaligen Flüchtlingen und Bedrängten Familien geht es tatsächlich besser, auch wenn noch selbst im baulichen Bereich noch mehr als nochmals so viel getan werden muss.

Vor allem die Arbeitslosigkeit ist immens – je nach Position der Gesprächspartner von 50 bis 80% - die Existenzbasis einseitig: nur 15 % der öffentlichen Budgets kommt aus Steuererträgen der Republik, der Rest sind Subventionen aus Moskau, von denen immer noch zu viel irgendwo auf der Reise von Moskau nach Grosny versichern und privat abgezweigt werden. Die Hälfte der Minderheit, die Arbeit hat, arbeitet im Sektor der von Staat und Republik finanzierten Wirtschaft. Es fehlen vorläufig die Investitionen von privater Seite, die zu einer ausgeglichenen Wirtschaftsentwicklung unentbehrlich sind.

Ich habe den Eindruck, die Republikspitze konzentriert den Wiederaufbau vorläufig vor allem auf die drei Zentren Grosny, Argun und Gudermes. Zwar sahen wir auch in Schatoi ein neues Spital und neben der zerschossenen alten Schulruine einen neuen provisorischen Schulbau, in dem vier Mal mehr Kinder zur Schule gehen als ursprünglich vorgesehen waren; doch in den Dörfern und entlang der Landstrassen sind die Ruinen und zerschossenen Vehikel noch nicht weggeräumt worden.

Nach den vorliegenden russischen Agenturangaben hat sich Ihre Delegation zur Menschenrechtslage in Tschetschenien nicht geäussert. Gibt es nach dem jüngsten Augenschein trotzdem eine Einschätzung Ihrerseits? Sind auch hier erkennbare Fortschritte zu verzeichnen (bessere Sicherheitslage)? Haben Sie dazu konkret Material sammeln und mit Tschetschenen über den Alltag sprechen können?

Selbstverständlich haben wir differenziert und neben Feststellungen zum unübersehbaren Fortschritt auch die notwendige Kritik geäussert und versucht, Verborgenes zu erhellen. Doch die russische Öffentlichkeit ist nicht nur in Tschetschenien wenig pluralistisch; die Agenturen berichten vor allem, was den Herrschenden gefällt.

Gewiss hat sich die Sicherheitslage verbessert; es sind zwar immer noch viel zu viele Bewaffnete sichtbar, doch Waffen haben im Nordkaukasus nicht nur eine reale Funktion, sondern sind auch Ausdruck eines falsch verstandenen, alten und überkommenen männlichen Habitus.

Doch erstmals wurden auch ganz offiziell – selbst in Moskau vom Innenministerium oder vom FSB, dem Geheimdienst, aber auch vom Republiks-Präsidenten und dem Vorsitzenden des Parlamentes, Zahlen genannt, wenn auch nicht immer übereinstimmende. So erfuhren wir im russischen Innenministerium, dass es in den ersten neun Monaten dieses Jahres in Tschetschenien zu 33 Schiessereien und 59 Explosionen gekommen sei, denen 43 Polizeikräfte zum Opfer fielen – die Zahl der anderen Toten wurde nicht genannt. Was die Entführungen betrifft, so sagte uns der Präsident der Republik, Ali Alchanow, diese seien im Vergleich zu 2005 um zwei Drittel zurückgegangen; in den ersten zehn Monaten dieses Jahres sind aber immer noch 55 Menschen entführt und verschleppt worden; nur 18 von ihnen sind wieder gefunden worden. Der für Tschetschenien zuständige Berater Putins sprach dagegen für 2006 von 108 Entführten, von denen 54 immer noch vermisst würden, während die Menschenrechtsorganisationen von 143 Entführungen während diesem Jahr schreiben.

Noch immer sind aus den beiden Kriegen die Schicksale von insgesamt 4237 Menschen unbekannt – das ist das ganz grosse Trauma, das auf den Menschen lastet. Viele beklagen sich dann auch, dass sie keine richtigen Auskünfte bekommen, keine wirklichen Untersuchungen angestellt werden und die forensischen Arbeiten an gefundenen Leichen nicht aufgenommen worden seien. Der Parlamentspräsident berichtete zwar von einer eigenen Kommission, die sich den Klagen annehmen würden; doch die Verzweiflung vor allem bei vielen Müttern über den Verbleib ihrer Söhne und Gatten ist gross. Ebenso wie die Verzweiflung über die Straflosigkeit, die immer noch herrscht, trotz einigen wenigen Anklagen, die in den letzten Monaten jetzt auch gegen offizielle Strafverfolgungsbehördenmitglieder eröffnet worden sind.

Ein Vertreter einer Menschenrechtsorganisation berichtete uns sogar, dass Folter immer noch die Regel sei, wenn Verhaftete nicht einfach sagen, was von ihnen gehört werden will. Das haben wir natürlich alles ganz offen bemerkt und kritisiert, auch gegenüber den höchsten verantwortlichen in Grosy wie in Moskau.

Die Rede ist von einem Runden Tisch, über den Sie mit dem tschetschenischen Präsidenten Alchanow gesprochen hätten. Ist das mehr als eine vage, nur mit Alchanow abgestimmte Idee? Ist es aus Ihrer Sicht denkbar und realistisch, dass daran auch wirklich alle relevanten Kräfte teilnehmen könnten? Gibt es schon genauere zeitliche Vorstellungen?

Die dafür zustände Subkommission der Parlamentarischen Versammlung des Europarates hat schon im vergangenen Frühjahr beschlossen, dass der zweite Runde Tisch zur Versöhnung und zum Friedensprozess in Tschteschenien in Grosny stattfinden soll. Allerdings nur dann, wenn im Unterschied zum vergangenen Jahr, sehr kritische Menschen sich auch frei äussern und deswegen keine Drangsalierungen oder noch schlimmere Konsequenzen davon tragen müssen. Die Offenheit, mit der sich diesmal Kritikerinnen und Kritiker äusserten, war eindeutig besser. Zudem muss aber auch der Kreis der Teilnehmer des Runden Tisches breiter und grösser werden im Vergleich zur Premiere in Strassburg im Frühjahr 2004. Dies bedarf noch vielen Gesprächen und Kompromissen. Das wird die Subkommission in den kommenden Monaten auch mit den russischen Kollegen, die Mitglied der Kommission sind. Doch die Bereitschaft des Republiks- und des Parlamentspräsidenten mit allen zu reden, die auf Gewalt verzichten und Tschetschenien als autonomer Teil der Russischen Föderation anerkennen, ist bemerkenswert gross und offener als auch schon. Vielleicht ist wirklich etwas Überraschendes möglich. Doch über das Datum können wir erst reden, wenn wir uns dieser Offenheit und echten Dialogbereitschaft mit den Feinden von gestern gewiss sein können. Denn schliesslich und das ist das schwierige am Frieden machen und an der Versöhnung, was schon Premierminister Rabin immer betont hat, dass dies mit den Feinden von gestern geschehen muss und dies ist nach Bürgerkriegen besonders leidvoll.

Welches sind Ihre weiteren Schritte? Wird mit dem Runden Tisch ein Ziel angestrebt, oder geht es um einen völlig offenen Prozess ohne Zielvorstellungen?

Das Ziel ist die Ursachen der Gewalt weiter abzubauen und Menschen in den Wiederaufbauprozess zu integrieren, die mit den gegenwärtigen Machthabern politische Differenzen haben. Das wäre viel in einer Republik, die zu einer Föderation gehört, in der Pluralismus, ziviler Dissens und gewaltlose Austragung von Konflikten neben anderen und weiteren liberalen Grundrechten auch für viele andere weder gelten noch selbstverständlich sind.

Das Ziel des zweiten Runden Tisches ist es tatsächlich, mehr Menschen auch aus dem Kreis des ehemaligen Präsidenten Maschadow, die tatsächlich der Gewalt abschwören und von der Autonomie Tschetscheniens in der Russischen Föderation ausgehen, zu integrieren in den begonnenen Normalisierungsprozess. So könnte er zu einem echten Versöhnungsprozess werden und die sozialen Beziehungen über alle Clans und alten Fraktionen neue rekonstruiert werden, was noch viel schwieriger ist als der Wiederaufbau von zerstörten Wohnungen.


Kontakt: Andreas Gross



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