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08.06.2002
Der Landbote
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Woche der Demokratie
Bericht über den Auftakt der Juni-Session der Eidgenössischen Räte. Es schreibt Andreas Gross (sp), Zürich.

Am Montagmorgen früh, kurz vor acht, schleppte ich meine zehn Kilo schwere Lieblingspapiersammlung ins Berner Bundeshaus. Ich brachte sie in den einsamen Keller und machte es mir dort zwischen den Computern an für Nationalräte reservierten Schreibtischen bequem. Für einen guten Freund galt es einige gute Zitate für eine direktdemokratische Rede im Züribiet zu finden. Die Quellen? Hunderte von Kopien von Artikeln aus dem «Landboten» (LB), dem Wetziker «Almann», dem «Volksblatt vom Bachtel» oder dem «Wochenblatt für den Bezirk Päffikon» aus den Jahren zwischen 1867 und 1870, der Zeit, als diese Zeitungen «Kampfblätter» der Demokratischen Bewegung waren, die in einer eigentlichen demokratischen Revolution aus dem liberaldemokratischen Kanton Zürich «Alles für das Volk» den damals direktdemokratischsten der Welt machten nach dem Motto «Alles für, durch und mit dem Volk»!
Was ich bis heute nicht weiss: Waren sich die Demokraten damals bewusst, dass der republikanische US-Präsident Abraham Lincoln dieses Leitmotiv 1863 zum Kern seiner berühmten Rede auf dem Soldatenfriedhof von Gettisburg gemacht hatte? Wenn ja, wie fand dieser Slogan der Demokraten seinen Weg von Nordamerika nach Winterthur und ins Zürioberland?
Trouvaillen
Es ist immer wieder die reine Freude, welch radikaldemokratische Trouvaillen sich da finden lassen. Reines, aber unschädliches Demokratie-Doping in einer Zeit, da die Demokratie banalisiert, der Bürger mit dem Konsumenten verwechselt und zu viele die Demokratie auf die Wahl zwischen Pepsi oder Cola reduzieren zu können glauben.
Ein kleines Müsterchen gefällig? «Unserer Ansicht nach besteht der Kern (der Bewegung für die Direkte Demokratie, ag) darin, dass das Volk sich den Respekt vor seinem eigenen Urteil, welchen die gewählten Repräsentanten ihm in allzu zahlreichen Fällen schroff verweigerten, auf verfassungsmässigem Wege erzwingt.» (LB, 1.3.1868) Oder: «Wir protestieren gegen die Herabwürdigung des Zürchervolkes, welche darin liegt, dass man es für unfähig erklärt, den wahren Fortschritt erkennen und dafür Opfer erbringen zu können. Wir erblicken in der falschen Beurteilung des Volkes den hauptsächlichsten Keim der gegenwärtigen Bewegung.» (LB, 8.12.1868).
Irreführendes und Unwahres
Wenn immer seither eine engagierte Minderheit unter den Bürgerinnen und Bürgern findet, das Parlament missachte sein Gewicht, kann sie sich der Volksrechte bedienen. Eine Einrichtung, deren auf lange Sicht segensreiche Wirkung wir am vergangenen Wochenende wiederum erkennen konnten und die auch für die EU und ihre künftige Verfassung hilfreich wäre für Europa und für die Demokratie.
Der Dienstag und Mittwoch stand ganz im Zeichen des Versuchs, der jetzigen Direkten Demokratie ein klein wenig mehr Fairness zukommen zu lassen. Drei Jahre lang hatten wir die Idee von Judith Stamm in ein Gesetz gegossen, wonach mit viel Geld vor Volksabstimmungen auch weniger versierte Bürgerinnen und Bürger weniger irregeführt werden sollen. Die ehemalige CVP-Kollegin hatte sich masslos aufgeregt, als vor der Abstimmung über die neue Bundesverfassung auf Hunderttausenden von Flugschriften in der Innerschweiz die These vertreten wurde, die neue Verfassung würde die Unabhängigkeit der Schweiz gefährden. Solchen Irreführungen und Unwahrheiten sollte auf Antrag einer Bürgerin oder eines Bürgers von einem Rat der Waisen widersprochen werden können. Nichts mehr und nichts weniger.
Doch es war aussichtslos. Von «Zensur» wurde gesprochen, von «staatlicher Einmischung», von «Wahrheitswächtern». Solche Grobheiten machten mich hilflos. Ich versuchte zu zeigen, dass der Diskurs gleichsam die «Seele der Direkten Demokratie» bedeutet und wir dieser Sorge tragen sollten. Auch viel Geld sollte diese nicht verletzen dürfen. Denn die Qualität eines Entscheides hängt massgeblich auch von der Qualität des öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozesses ab, der zum Entscheid führt.
Kostbares Gut
Doch in der liberalistischen und demokratischen Schweiz ist die Mehrheit im Parlament noch nicht bereit, Konsequenzen für den Fall vorzusehen, wenn das «freie Spiel der Kräfte» mit den demokratischen Erfordernissen in Widerspruch gerät. Obwohl wir doch vom wirtschaftlichen Markt bestens wissen, dass dieser gestaltet werden muss, wenn er fair und rücksichtsvoll funktionieren soll.
Wie lange werden wir wohl argumentieren müssen, bis wir dies auch mit Bezug auf die Direkte Demokratie merken? Hoffentlich nicht so lange, bis die Verlierer einer Abstimmung ihre Niederlage nicht mehr akzeptieren, weil sie die Kampagne zuvor als unfair empfunden haben. Denn dann wäre zu spät, weil das kostbarste Gut der Demokratie, die Legitimität, dann beschädigt wäre.
Auch kritische Bürger einbeziehen
Am Donnerstag vertrat ich in Erfurt vor dem Justizausschuss des Thüringer Landtages die These, dass, wer die Güte der Direkten Demokratie verwirklichen will, die Volksrechte so ausgestalten muss, dass erstens auch kleine Bürgergruppen sie gebrauchen können und zweitens für die institutionellen und öffentlichen Debatten genügend Zeit eingeräumt werden muss. Hier muss die politische Klasse Deutschlands im Allgemeinen und Thüringen ganz besonders noch viel lernen.
18 Prozent aller Thüringer hatten vor zwei Jahren ein Volksbegehren für mehr Demokratie unterzeichnet. Die Mehrheit des dortigen Landtages hat immer noch Mühe, ihre Macht zu teilen, und merkt nicht, dass mit den engagierten Bürgern mehr bewirkt werden kann als ohne oder gar gegen sie. In der Nacht ging es mit dem Zug wieder südwärts, aber nicht nach Zürich zurück, sondern nach Paris: In einer Subkommission des Europarates versuchten wir zusammen mit einem Pariser und Berliner Professor die zunehmende Entmachtung und Schwäche der Demokratie in allen Ländern Europas zu verstehen, zu ergründen und Gegenstrategien zu entwickeln.
«Echte Souveränität»
Viel gelernt habe ich und viel Ermutigung erfahren. Aus solchen Vergleichen mit anderen Ländern erschliessen sich auch die eigenen Stärken. Diese verdankt die Schweiz nicht zuletzt der Demokratischen Bewegung von vor 145 Jahren. Doch sind sich zu wenige Schweizer dessen bewusst. Sonst würden sie doch diese Stärken mehr pflegen und auch selbstbewusster einbringen, wo sie derzeit gefragter sind denn je: in der EU, die daran ist, sich eine transnationale Verfassung zu geben der entscheidende Schritt, der die Demokratie aus der Schwäche herausführt. Denn die Demokratie will die Menschen aus einer «Scheinsouveränität in eine echte Souveränität» führen (LB, 16.12.1867). Dazu muss sie auf der gleichen Ebene funktionieren wie die Wirtschaft, um ihr so sozial- und umweltverträgliche Grenzen zu setzen. Auch dies wird die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer einmal merken: Nicht nur hat Europa mehr Demokratie nötig, die Demokratie bedarf auch Europas!
Andreas Gross ist Politikwissenschafter aus Zürich, leitet das Atelier für Direkte Demokratie in St.-Ursanne und ist SP-Nationalrat und Vizepräsident des Europarates.
Andreas Gross
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