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29. Juli 2006
Amnesty International
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Was 200 Jahre schief lief, kann nicht in wenigen Jahren richtig gestellt werden
Interview für Amnesty zu Tschetschenien. Von Pascale Schnyder.
Als Mitglied des Europarats beschäftigen Sie sich seit langem mit dem Konflikt in Tschetschenien und kritisieren regelmässig die dramatische Menschenrechtslage. Wo sehen Sie die grössten Probleme, die die Verbesserung der Situation verhindern?
Vor allem fehlt es in Moskau bisher am politischen Willen und an der Kraft, eine Verständigungslösung einzuleiten, welche die wichtigsten legitimen Interessen auch der oppositionellen Kräfte in Tschetschenien berücksichtigt. Zweitens hat Moskau erlaubt, dass derzeit in Tschetschenien eine halbseichte kriminelle wirtschaftlich-politisch-militärische Struktur dominiert, welche es allen einfachen Menschen enorm schwer macht, ausserhalb belastender Zusammenhänge einigermassen zu überleben. Drittens war es in dieser Gegend der Welt noch nie möglich, in zumindest rudimentär demokratischen, rechtsstaatlichen und die Grundrechte respektierenden Bedingungen zu leben, was es sehr sehr schwer macht, entsprechende Reformen einzuleiten und zu festigen. Schliesslich leben einige wenige auf verschiedenen Seiten der Gewalt sehr gut von und mit ihr, so dass es den vielen, die darunter leiden, schwer fällt, sie zu überwinden.
Wo sehen Sie die grössten Chancen für ein Ende des Konflikts?
Es geht nicht um ein Ende der Konflikte. Solche sind in freiheitlichen Umständen selbstverständlich. Es geht um ein Ende des Krieges und der Gewalt. Die Quelle der grössten Hoffnung ist er Überdruss, den die meisten Menschen nach über zehnjähriger Gewalt haben und die Einsicht einiger, dass diese so mit noch mehr Gewalt kein Ende finden kann. Gewaltsam kann niemand gewinnen. Das könnte der Anfang von der Arbeit an Alternativen sein.
Welche Rolle spielt Europa im Tschetschenienkonflikt?
Dazu könnte man ein Buch schreiben. Zuerst ist daran zu erinnern, dass Tschetschenien ein Teil Europas ist. Zweitens empfindet sich Russland auch als eine versehrte Nation, sah sich mindestens bis vor kurzem mit dem Rücken an der Wand, in sich wenig gefestigt und verletzlich. Deshalb verbat es sich jegliche weitere "äussere" Einmischung von Seiten der EU, der OSZE oder der UNO. Entsprechend konnten diese Organisationen direkt wenig bewirken. Zudem akzeptierten viele Regierungschefs der EU und der USA nach dem 11. September 2001 die Logik, wonach es in Tschetschenien auch nur um einen Kampf gegen den Terror ginge, welcher den Russen überlassen werden könne. Deswegen war die Rolle Europas insgesamt schwach.
Obwohl kaum an einem Ort Europas die Menschenrechte so mit Füssen getreten werden wie in Tschetschenien, ist der Konflikt auf politischer Ebene, aber auch in der Öffentlichkeit und den Medien kaum ein Thema.
Es gibt noch andere massenhaften Verletzungen von Menschenrechten im Kaukasus, die sind noch viel weniger ein öffentliches Thema bei uns. Der Kaukasus ist weit weg - der Balkan hat Europa schon fast überfordert. Zudem hat die Öffentlichkeit ein beschränktes Vermögen aufmerksam zu sein; es gibt mehr Not und Elend auf der Welt als unser Vermögen, es auszuhalten und dagegen etwas zu tun.Deshalb wird es dann auch schnell den meisten Medien zu viel, weil die wollen ihren Inhalt primär verkaufen können und erst sekundär der Not in der Welt gerecht werden. Allerdings gibt es grosse positive Ausnahmen wie die NZZ und die BBC.
Warum ist der politische Druck auf Russland in Bezug auf Tschetschenien so gering?
In den letzten Monaten ist er zusätzlich noch geringer geworden, weil den Spitzen der EU und der G8-Staaten ihre energiepolitische Abhängigkeit von Russland noch deutlicher bewusst geworden ist und so der Mut und die Fähigkeit noch mehr schwand, offen und deutlich und dennoch respektvoll und empathisch mit Herrn Putin zu sprechen. Dies ist anstrengend und derzeit haben wir zu viele Regierungschefs, die verbraucht sind und solche Anstrengungen scheuen.
Und warum wird der Konflikt in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen?
Die Gewalt in Tschetschenien wird durchaus wahrgenommen. Es gibt schwierigste Probleme, die sind einem bewusst und man kann dennoch nicht sofort die Reformen realisieren. Viele unter uns haben die Einsicht in die Dauer und Zeit verloren, die Veränderungen zu Guten brauchen. Was 200 Jahre schief lief und immer schiefer wurde, kann nicht in wenigen Jahren richtig gestellt werden.
Russland ist Mitglied des Europarats und hat vom Mai bis November 2006 sogar den Vorsitz im Ministerrat. Wie geht der Europarat mit einem Mitgliedsstaat um, der die Menschenrechte auf diese Weise missachtet?
Demokratie und Menschenrechte sind Grundwerte und Gegenstand nie endender kollektiver Lernprozesse. Das heisst, jeder und jede kann damit beginnen, wird aber nie damit fertig sein. Es wird so beispielsweise nie eine perfekte Demokratie geben; das demokratische Lernen geht auch bei uns weiter und die schweizerische Demokratie liesse sich meines Erachtens in vielerlei Hinsicht verbessern. Deshalb war es auch richtig, Russland in den Europarat aufzunehmen, nachdem es 1996 in Tschetschenien einen Waffenstillstand unterzeichnete und bereit war, sich die Grundwerte des Europarates zueigen zu machen. Seither hat vor allem die exekutive Seite des Europarates diesen Lernprozess nicht nur in Russland zu wenig entschieden begleitet und unterstützt. Was den Vorsitz betrifft, so ist dies eine Frage des Alphabets; Moldawien hatte auch schon den Vorsitz und ist in Sachen Demokratie und Menschenrechte erst wenig weiter als Russland. Der Vorsitzt Russlands erlaubt uns Parlamentariern sogar, mehr und entschiedener nachzufragen und Öffentlichkeit über entsprechendes Schwachstellen in Russland herzustellen.
Was macht der Europarat in Bezug auf Tschetschenien?
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates war und ist die einzige internationale Organisation, welche seit 1996 in Tschetschenien präsent ist, immer wieder Berichte über die Situation vor Ort herstellt und öffentlich diskutiert. Das ist nicht zu unterschätzen. Zweitens hat der Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg schon einigen Tschetscheninnen geholfen und zum Recht verholfen - etwas, was die Menschen dort als letzten Ausweg enorm schätzen. Drittens hilft der intergouvernementale Bereich des Europarates mit einigen Ausbildungsprogrammen. Doch politisch könnte gewiss mehr und kritischeres getan werden, doch da fehlt manchmal die Kraft, der Mut und die Entschiedenheit.
Die Schweiz ist das einzige Land, das bilateral in Tschetschenien tätig ist. Was macht die offizielle Schweiz und wie schätzen Sie dieses Engagement ein?
Die Schweiz und Dänemark sind humanitär und im Wohnungsbau unterstützend tätig. Das ist nicht immerhin etwas und Ausdruck auch der Wertschätzung, welche diesen beiden Staaten vor Ort und in Moskau entgegengebracht wird. Der Einsatz einiger Landsleute ist beachtlich und zu verdanken. Doch wie gesagt, wir alle könnten mehr und besseres leisten.
In der Schweiz wurde im vergangenen Jahr ein tschetschenisches Zivilgesellschaftsforum gegründet. Wie beurteilen Sie diese Initiative?
Das ist langfristig sicher richtig. Ohne eine starke BürgerInnenschaft geht nirgends was Nachhaltiges. Doch dafür braucht es in Tschetschenien noch viel zeit und manch gründliche Reformen. Heute haben zu viele verständlicherweise immer noch Angst, zu sagen, was sie denken und kritische Fremde nach Hause
einzuladen. So drastisch ist die Repression von verschiedener Seite. Unter solchen Umständen darf man in Sachen zivilgesellschaftlicher Entwicklung nicht zu schnell zu viel erwarten.
Tschetschenische MenschenrechtsverteidigerInnen nehmen oft den Tod in Kauf, um die Menschenrechtsverletzungen vor Ort zu dokumentieren. Welche Rolle spielt diese Arbeit für Sie?
Wir sind mit ihnen in permanentem Kontakt, helfen, wo wir können, im Wissen, ihnen das Risiko nur beschränkt abnehmen zu können. Ohne ihren Mut wäre unsere Arbeit noch unmöglicher. Deshalb verdienen sie auch alle unsere Unterstützung.
Wie schätzen Sie die Ermordung von Bassajew für die Situation in Tschetschenien ein?
Selbst er hätte vor ein Gericht gehört und darf nicht einfach erschossen werden. Doch es scheint ein Unfall gewesen zu sein; er starb durch den Sprengstoff, den er selber präpariert hat. Doch die ehemaligen Präsidenten Maschadow und Saydullayew wurden umgebracht. Es ist zu hoffen, dass der Tod Bassayews gewisse brutalste Terroranschläge gegen die Zivilbevölkerung weniger wahrscheinlich macht; sicher ist dies freilich nicht und hängt vor allem davon ab, ob es den vernünftigen Kräften auf allen Seiten gelingt, eine Verständigungslösung einzuleiten, welche ein Ende de Gewalt plausibel werden lässt und den Menschen reale Gründe für eine neue Hoffnung für eine selbstbestimmte Existenz ohne Not und Willkür vermitteln kann.
Andreas Gross
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