3. Juni 2006

Neue Zürcher Zeitung
Seite 9

«Mit Putin einen andern Diskurs führen
über Tschetschenien»


Gespräch mit dem Tschetschenien-Beauftragten des Europarats, Andreas Gross

Herr Gross, der zweite Tschetschenien-Krieg hat vor bald sieben Jahren begonnen. Wie lange sind Sie als Mitglied des Europarates schon intensiver mit diesem Konflikt beschäftigt?

Ich bin seit 1995 Mitglied des Europarates und gehöre der politischen Kommission an. Dort setzen wir uns seit vielen Jahren sehr intensiv mit den Verhältnissen in Tschetschenien auseinander, vor allem seit Russland 1996 Mitglied des Europarates wurde. Dann gehörte ich zur Delegation, die Tschetschenien zu Beginn des zweiten Krieges im Winter 1999/2000 besuchte. Bei dieser Mission haben wir damals mit Putin ein über dreistündiges Gespräch über das Tschetschenien-Problem geführt, bei dem ich viel gelernt habe über die russische Sicht zu diesem Komplex.

Damals war Putin erst amtierender, aber noch nicht gewählter Präsident?

Richtig, seine Wahl durch das Volk fand erst im März 2000 statt. Praktisch täglich beschäftige ich mich mit Tschetschenen, seit ich im Juni 2003 Nachfolger wurde von Lord Judd als politischer Berichterstatter des Europarates für Tschetschenien, mit dem Auftrag, politische Lösungen zu evaluieren und einzuleiten. Diesen Auftrag habe ich bekommen, weil ich einen grossen Bericht über erfolgreiche Autonomie-Lösungen verfasst hatte. Im Sommer 2004, unmittelbar vor der Tragödie in Beslan durfte ich nach längeren Verzögerungsmanövern [zum ersten Mal (Einschub durch die NZZ)] wieder nach Tschetschenien reisen.

Ein vergessene Tragödie?

Über Tschetschenien liest und hört man in letzter Zeit weniger als früher. Ist das ein Zeichen, dass die Lage sich dort Region stabilisiert hat? Oder ist das ein Indiz für ein zunehmendes Desinteresse in Russland und im Westen an diesem Konflikt?

Ich würde sagen: Weder noch. Einerseits ist ja Stabilität nicht das entscheidende Ziel. Auch ein Friedhof ist etwas Stabiles. Das eigentliche Ziel ist Frieden, Demokratie, die Entwicklung der Wirtschaft und der Respekt gegenüber den Menschenrechten. Tschetschenien ist bis heute möglicherweise derjenige Ort in Europa, in dem die Menschenrechte am offensichtlichsten mit Füssen getreten werden. Ich erinnere mich an das eindrucksvolle Zitat einer Frau, der wir im Vorfeld der sogenannten Parlamentswahlen in Tschetschenien Ende November letzten Jahres begegnet sind, in einem Dorf, wo wir wirklich frei sprechen konnten. Diese Frau hat gesagt, die Situation in Tschetschenien sei wie die während der Stalinzeit 1937 [, nur (fk)] ohne Hunger.

Die Einwohner in Tschetschenien haben heute mehr Angst vor der private Armee und den kriminellen Banden um den jungen Ministerpräsidenten Ramsan Kadyrow und weniger vor der den russischen Soldaten. Wobei Kadyrow natürlich sein Unwesen nur treiben kann, weil er vom Kreml gedeckt wird.

Und was das öffentliche Interesse betrifft: Es ist in gewissen Sinne auch eine grausame Öffentlichkeit, die einem Problem hauptsächlich dann Aufmerksamkeit schenkt, wenn es dort besonders rücksichtslos und gewalttätig zugeht. Im Zusammenhang mit Tschetschenien beispielsweise war es diese furchtbare terroristische Besetzung der Schule in Beslan, die über 300 Personen, meist Kindern, das Leben gekostet hat. Wenn aber ein Teil der Rebellen vernünftiger agiert, indem sie auf Gewalt verzichtet, was für einen Teil der tschetschenischen Separatisten zutrifft, und wenn internationale Organisationen unspektakulär aber doch millimeterweise versuchen, Dialogprozesse einzuleiten, dann wendet sich die berühmte öffentliche Meinung wieder von dem Thema ab.

Aber ohne diese Aufmerksamkeit fühlen sich auch gewisse Spitzenpolitiker nicht mehr gedrängt, das Unbequeme zu thematisieren. Vor allem dann nicht, wenn einerseits der ganze Konflikt unter dem Etikett Terrorbekämpfung eingeordnet wird. Und wenn sich auf der anderen Seite vielen in Westeuropa stärker bewusst wird, wie abhängig sie vom russischen Gas oder Öl sind.

Kann man aber sagen, dass es heute weniger offene Kämpfe gibt als zu Beginn des Tschetschenienkrieges?

Das stimmt sicher. Es gibt dort so etwas wie einen kalten oder versteckten Krieg. Das Wort Krieg ist vielleicht nicht mehr adäquat, sondern es handelt sich um eine permanente Unterdrückung von Andersdenkenden oder von Einwohnern, die nicht kriminell werden wollen im Schatten der [durch die (Formulierung NZZ)] sogenannten Kadyrowzis. Das ist die Privatarmee des tschetschenischen Ministerpräsidenten Ramsan Kadyrow.

Ist denn diese Truppe Kadyrows eng verbandelt mit dem russischen Militär, oder gibt's da auch Differenzen?

Einerseits machen diese beiden Kräfte gerne zusammen krumme Geschäfte. Auf der anderen Seite befehden sie sich wie auch mit zwei anderen bewaffneten Clanführern; sie streiten sich gleichsam um Einfluss und Geschäftsbereiche. Und es gibt auch Zusammenstösse, bei denen Kadyrows Privatarmee mit Waffen auf die Anhänger des offiziell gewählten Präsidenten Alu Alchanow losgehen. Anschliessend mussten dann beide bei Putin wieder öffentlich Eintracht vortäuschen. Es ist eine sehr unübersichtliche, sehr fragmentierte, gewaltsame Auseinandersetzung unter diesen bewaffneten Kräften. Aber die oberste Verantwortung, und das darf man nicht vergessen, hat natürlich der Kreml.

Russlands Rolle im Europarat

Russland hat kürzlich den Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates übernommen. Was sind Ihre eigenen Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit russischen Europarats-Kollegen in der Tschetschenienfrage?

Einerseits muss man betonen, dass die Übernahme des Vorsitzes im Ministerkomitee eine Sache des Alphabetes ist. RUS kommt nun mal nach RUM wie Rumänien und das ist nicht Ausdruck einer Anerkennung im Bezug auf menschenrechtliche Standards. Mit dem russischen Delegationsleiter Konstantin Kosatschow - er ist gleichzeitig Präsident der aussenpolitischen Kommission der Duma - arbeite ich seit zwei Jahren sehr eng zusammen. Er ist 44 Jahre alt, ein ehemaliger Diplomat, der lange in Schweden stationiert war. Kosatschow gehört zu jenen jüngeren Politikern in Russland, die um die belastende Vergangenheit Russlands wissen, sie aber überwinden und aus Russland ein ordentliches Mitglied der Weltgemeinschaft machen wollen. Auf ihn kann ich mich total verlassen. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch in der grossen 16-köpfigen russischen Delegation im Europarat Vertreter mit wesentlich nationalistischeren, ja chauvinistischen [und vor allem oligarchischen (von der NZZ gestrichen)] Einstellungen.

Ihr deutscher Kollege Rudolf Bindig hat im Januar als Rapporteur für Menschenrechtsfragen einen Bericht über die Situation in Tschetschenien vorgelegt. Darin gibt es sehr kritische Ausführungen über die brutale Willkür sogenannter Sicherheitskräfte in Tschetschenien. Es wird auch moniert, dass das Ministerkomitee des Europarats nicht deutlich genug Stellung bezieht gegenüber Russland zu diesen Menschenrechtsverletzungen.

Diese Kritik ist berechtigt. Man muss auch wissen, dass die Vertreter der Exekutive im Ministerkomitee eben nur ganz selten die Minister selber sind und die Botschafter häufig nicht bereit sind, offene Kritik zu artikulieren. Aber wenn man unter Freunden nicht offen ist, ist das [eigentlich (von der NZZ eingefügt)] viel schlimmer, als wenn einen vor einem Feind der Mut verlässt.

Sie haben vor einem Jahr in Strassburg einen Runden Tisch organisiert, in dem einige Vertreter der Konfliktparteien sich getroffen haben. Welches sind die weiteren Perspektiven für dieses Projekt?

Wir haben damit vor einem Jahr einen Prozess eingeleitet, der immer noch im Gange ist. Der damalige erste Runde Tisch war ein Erfolg, aber er war auch beschränkt, weil die gegenüber Russland kritischen Teile der tschetschenischen Gesellschaft nicht genügend repräsentativ vertreten waren. Und seither versuche ich millimeterweise einen repräsentativeren Dialogprozess in Gang zu setzen. Die dafür Zuständigen im Europarat treffen sich fast jeden Monat. Wir haben in Aussicht genommen, dass das nächste Treffen des Runden Tisches in Grosny stattfinden sollte. Aber nur unter den Bedingung, dass alle Seiten, die das Prinzip des Gewaltverzichts akzeptieren, wirklich freies Geleit bekommen, offen reden dürfen [und das auch überleben können (von der NZZ gestrichen)].

Und wie reagiert die russische Seite auf diese Forderung?

Die Russen haben das zur Kenntnis genommen und bemühen sich, diese Forderung zu erfüllen. Aber wir wissen, dass das noch einige Zeit und Anstrengungen erfordert.

Nicht alle Rebellen sind gleich

Unter den tschetschenischen Rebellen gibt es die sogenannten gemässigten oder dialogbereiten Kräfte. Das sind die Anhänger des im vergangenen Jahr getöteten früheren Präsidenten Maschadow. Sind diese Kräfte heute bereit, die russische Souveränität über Tschetschenien anzuerkennen?

Absolut. Das gehörte zur gemeinsamen Definition derjenigen, die am Runden Tisch teilnehmen sollten. Der Vertreter dieser dialogbereiten Separatisten, Achmed Zakajew, der in London Asyl bekommen hat, hat dies in einem Brief an uns im Januar schriftlich bestätigt.

Jetzt kann man sicher sagen, wahrscheinlich repräsentieren diese Rebellen nicht mehr wie früher einmal die Mehrheit der Tschetschenen, aber möglicherweise etwa [10 bis (von der NZZ gestrichen)] 20 Prozent. Das ist deshalb nicht wenig, weil sie zu denjenigen gehören, die erkannt haben, dass mit Gewalt keine wirkliche Lösung des Konflikts möglich ist. Der terroristische Flügel der Rebellen, die Leute unter Schamil Basajew, kommt für den Runden Tisch nicht in Frage, dieser Flügel hat sich selber diskreditiert.

Sind die Rebellen, die zur Maschadow-Zakajew-Strömung zählen, heute bereit für die Einsicht, dass nach dem Waffenstillstand im ersten Tschetschenienkrieg, also nach 1996, die Chance für die Entwicklung eines unabhängigen tschetschenischen Staates verspielt wurde - durch interne Streitigkeiten, durch kriminelle Gewalt, durch islamistische Extremisten und skrupellose Geschäfte mit Entführungen?

Absolut. Das geben die Leute, die Zakajew nahestehen durchaus zu. Die sind bereit über das zu reden, über die Fehler, die damals gemacht wurden. Was weiss man denn über die Stärke der unversöhnlichen islamistischen Terroristen um Basajew, die verantwortlich sind für den Anschlag damals im Musical-Theater 2002 und in Beslan 2004 und für andere schrecklichen Bluttaten?

Es gibt sie ganz sicher noch und sie unternehmen auch immer wieder gewalttätige Aktionen, etwa in Dagestan und andern russischen Teilrepubliken im Nordkaukasus. Aber wie stark diese Kräfte sind und wie gross ihre Anhängerschaft in Tschetschenien selber ist, das ist unklar. Aber sicher ist, dass die grosse Mehrheit der Bevölkerung nichts sehnlicher wünscht als ein Ende von Willkür und Gewalt.

Es gibt unter den extremistischen Rebellen um Basajew offenbar Einflüsse von al-Kaida und andern Netzwerken aus dem Umkreis des terroristischen Islamismus. Nur kann man nicht den ganzen Tschetschenienkonflikt auf diese terroristischen Exzesse reduzieren, wie manche Politiker [nicht nur (von der NZZ gestrichen)] in Russland das gerne tun. Denn nicht nur im Kreml gibt es verschieden Faktionen, auch unter den tschetschenischen Rebellen ziehen längst nicht alle am gleichen Strick. Die grosse Kunst ist es, mit beschränkten Möglichkeiten diese Differenzierungen zu berücksichtigen und fruchtbar zu machen bei der Suche nach einer politischen Lösung.

Es gibt Berichte über partielle Fortschritte beim Wiederaufbau in Tschetschenien. Wie funktioniert die versprochene Entschädigung von Russland an Tschetschenen, deren Hab und Gut zerstört worden ist?

Es fliesst schon seit zwei, drei Jahren ziemlich viel Geld aus Moskau nach Tschetschenien, für Waisen, für Menschen, die Angehörige verloren haben und für Wohnungen und Häuser, die zerstört wurden. Aber 60 bis 70 Prozent dieses Geldes werden abgezweigt von korrupten Gruppen und Beamten, so dass viele Opfer gar nicht bekommen, was ihnen zusteht. Viele Tschetschenen müssen immer noch mit vier oder fünf Personen in einem Zimmer in schlechten Wohnungen in halb zerstörten Mehrfamilienhäusern hausen. Und dann gibt es in den Städten und Dörfern immer noch riesige Trümmerhaufen von den zerstörten Häusern, die werden nur langsam beseitigt und waren lange Zeugen vergangener Grausamkeiten.

Was können die Europäer tun?

Nach dem Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges gab es einige hunderttausend Flüchtlinge. Kann man sagen, dass ein grösserer Teil inzwischen zurückgekehrt ist nach Tschetschenien?

Einerseits ja, vor allem diejenigen, die in diesen schrecklichen Lagern waren, in Inguschetien, einer armen, unmittelbar angrenzenden Republik. Diese Flüchtlinge sind mehrheitlich wieder zurück und leben in diesen Mehrfamilienhäusern, die ich genannt habe. Auf der anderen Seite gibt es eine ganz grosse Diaspora in Westeuropa. Tschetschenien macht die grössten Kontingente von Asylbewerbern in Westeuropa aus. Die Haltung der westeuropäischen Länder diesen Flüchtlingen gegenüber ist leider uneinheitlich und widersprüchlich. Und dann gibt es viele Tschetschenen im übrigen Russland, vor allem in Moskau. Denen geht es sehr schlecht, sie werden häufig wie Rechtlose behandelt. Man unterstellt ihnen alles Schlimme und glaubt ihnen nichts und das macht die Situation für diese Tschetschenen sehr schwierig. Sie finden eigentlich nirgends im eigenen Land ein Zuhause.

Was können die Westeuropäer konkret tun, um die Situation in Tschetschenien zu verbessern?

[Einerseits den Bedrohten wirklich Asyl gewähren, zumindest vorläufig. Andererseits sollten (von der NZZ gestrichen)] trotz der bewusster gewordenen Abhängigkeit von russischen Ressourcen vor allem die grossen europäischen Regierungen einen anderen Diskurs entwickeln zu dieser Frage. Sie sollten offener und klarer mit Putin darüber sprechen und ihm zeigen, dass es in seinem eigenen Interesse liegt, die Sicherheit, den Wiederaufbau, den Respekt gegenüber den europäischen Grundnormen in Tschetschenien zu fördern, [beziehungsweise zu schaffen - gestrichen]. Dass er die Verantwortung auch in Tschetschenien nicht an eine gewalttätige Bande wie die Kadirowzis delegieren kann. Es gibt Anzeichen, dass etwa Frau Merkel das besser machen wird als Herr Schröder. Ich wünsche mir, dass die westlichen Regierungschefs offen, ehrlich, respektvoll und klar mit Putin reden. So könnte - wie das schliesslich im Baskenland oder in Nordirland in Gang gekommen ist - ein Prozess der Versöhnung eingeleitet werden. Es geht darum, dass die wirklichen Terroristen vor Gericht kommen und die grosse Mehrheit der tschetschenischen Bürger so leben kann, wie sie das möchte, nämlich in Freiheit und in Sicherheit.

Die Fragen stellte Reinhard Meier

Bearbeitung der Streichungen und
Einfügungen durch die NZZ: Fredi Krebs


Andreas Gross



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