01.03.2006

Maturarbeit
von Ricardo Visini

«Keiner gewinnt und alle verlieren immer mehr»

Fragen gestellt von Ricardo Visini (VS/FR)

Welche Auswirkungen hat der Tschetschenienkonflikt auf Europa?

Andreas Gross: Tschetschenien gehört zu Europa, wie der ganze Kaukasus. Und Russland hat sich durch die Mitgliedschaft im Europarat zur Achtung der europäischen Grundwerte und Grundrechte bekannt. Wir können uns in Europa nicht frei und sicher fühlen, wenn anderswo in Europa ein versteckter Krieg herrscht, Menschenrechte mit Füssen getreten werden, Willkürherrschaft und Verbrechen ungestraft verübt werden können. Die Folgen können auch uns ganz direkt treffen: Terroranschläge, Flüchtlinge, Unterminierung und Erosion unserer Werte und Einrichtungen.

Welche Auswirkungen hat der Tschetschenienkonflikt auf die anderen Kaukasusländer (im Nordkaukasus und im Südkaukasus)?

Es ist heute schon so, dass der Tschetschenienkrieg indirekt den ganzen Nordkaukasus erfasst hat. Je länger seine Ursachen und Kernprobleme nicht angegangen werden, wird dies noch intensiver der Fall sein. Es findet dann in der ganzen Region eine Art Tschetschenisierung statt: Grundrechte werden mit Füssen getreten, es herrscht eine verbrecherische Willkürherrschaft, der wichtigste Wirtschaftszweig ist eine Art Kriegsschmuggelschwarzwirtschaft, Drogen, Menschen und Waffen werden gehandelt, niemand ist sicher, alle haben Angst vor allen, ganz wenige lernen den meisten das Fürchten.

Flüchtlinge aus dem Norden gibt es auch im Süden. Auch Georgien und Armenien leiden unter der unklaren Politik Russlands, der Nagorno Karabach-Konflikt ist unter diesen Umständen noch schwieriger zu lösen.

Gibt es einen tschetschenischen Ansprechpartner, den die meisten Tschetschenen akzeptieren würden und was würde dieser Person diese Autorität geben (mit dem die Russen verhandeln könnten?)?

Es gibt auf allen Seiten verschiedene Gruppen und Ansprechpartner. Auch die russische Seite in Grosny und Moskau ist nicht homogen. Die verschiedenen Exponenten der verschieden Fraktionen müssen miteinander ins Gespräch kommen - ausser jene, welche Politik nach wie vor mit Gewalt machen wollen und die Integrität der Grenzen der Russischen Föderation heute nicht anerkennen.

Welche Faktoren würden die verschiedenen Kräfte Tschetscheniens vereinen?

Sie sind sehr vielfältig und der gemeinsame Nenner ist klein. Doch alle lieben sie ihre Heimat und wollen das beste für sie. Doch religiös, kulturell, politisch, wirtschaftlich haben viele ganz unterschiedliche Interessen und Identitäten.

Wie soll Frieden mit Schamil Bassajew geschlossen werden?

Bassajew selber kommt vorläufig, solange er sich zum Terror bekennt und solchen verantwortet als Gesprächspartner nicht in Frage. Ansprechen muss man seine Basis, sein Umfeld; sie gilt es durch politische Reformen aus der Logik des Terrors herauszuholen.

Wie schätzen Sie die Rolle und Stärke des Islamismus in diesem Gebiet ein?

Er ist ein Kind der Leere und des Unvermögens in der Zwischenkriegszeit. Im ersten Krieg spielte er keine Rolle. Im zweiten schon, nachdem in der Zeit zwischen 96 und 99 dank vieler Unzulänglichkeiten der fundamentalistischen Flügel mit Beziehungen zum internationalen Terror an Boden gewann unter den Autonomisten. Tschetschenien war aber lange Zeit eine Region, in der die Religion keine so grosse Rolle gespielt hat.

Ist die russische Föderation überhaupt für den friedlichen Weg offen und welches sind die Gründe für diese Einstellung?

Die Russische Föderation ist verpflichtet, solche Konflikte friedlich anzugehen. Sie hat auch ein immanentes grosses Interesse daran: Der Krieg in seiner alten und jetzigen Form bedeutet eine ungeheure Verrohung vieler junger Menschen, ganz abgesehen von allem anderen Leid, Opfer, Geld- und Ressourcenverschwendung.

Wie sollte der erste Schritt zu einem Frieden Ihrer Meinung nach Aussehen?

Der erste Schritt beginnt immer mit Gesprächen jener, die sich bisher bekriegten. Dies ist nicht unmöglich und kann herbeigeführt werden.

Welche Chancen hätte das autonome Bezirk-System für Tschetschenien und warum?

Ich habe im Europarat einen grossen Bericht gemacht, er ist auf meiner Homepage zu finden, was man im Zusammenhang mit den heutigen Krisen von den vergangenen erfolgreichen autonomen Regionen lernen kann. Die russische Verfassung lässt solche weit ausgebauten autonomen Regionen zu. Autonomie ist immer ein gegenseitiger Verständigungsprozess; Tschetschenen und Russen können und müssen in einen solchen einsteigen, wenn sie Frieden finden wollen. Das wäre die grosse Chance für beide.

Wäre Tschetschenien als unabhängiges Land in der Lage wirtschaftlich zu überleben und wieso?

Nein, vorläufig nicht. Es ist traditionell viel zu stark auf Russland ausgerichtet, es könnte heute die Schatten-Herrschaft und den Schmuggel nicht überwinden; deshalb denken heute die meisten vernünftigen Kräfte nicht an Unabhängigkeit.

Wie lange kann Russland diesen Krieg noch durchhalten?

Leider könnte es dies noch sehr sehr lange. Es verliert dabei aber auch viel, deshalb wird es nach Alternativen suchen und trotz allem ein Interesse daran haben. Aber gewinnen können die Tschetschenen militärisch gegen die Russen nicht, sie können sie höchstens ewig stören, so dass niemand richtig gewinnt und alle immer mehr verlieren.

Kann Russland überhaupt auf Tschetschenien verzichten und was macht den Wert von Tschetschenien für Russland aus?

Russland fühlt sich seit 15 Jahren erniedrigt und an der Wand. Deshalb kann und will es derzeit nicht weiter auf Land verzichten. Deshalb müssen wir einen subtileren Prozess einleiten, der beide und ganz verschiedene Interessen berücksichtigt und vielen entgegenkommt. Ohne dass einer alles erreicht, was er will.

Wie sollten im Falle eines Friedensschlusses die beteiligten Soldaten und Offiziere/Kommandanten beider Seiten behandelt werden?

Respektvoll und ohne Erniedrigung. Letzteres führte schon 1996 zum Krieg von 1999.

Was sollte im Falle eines Friedens mit den Flüchtlingen geschehen?

Ihre Rückkehr hat seit einiger Zeit schon begonnen. Sie wird noch intensiviert werden. Jeder Tschetschene solle frei entscheiden können, wo er leben möchte.

Wie ist die Einstellung der tschetschenischen Bürger (nicht der Rebellen) zum russischen Staat und zur Unabhängigkeitsidee?

Viele, die meisten von ihnen, haben nichts gegen den russischen Staat an sich. Es sind heute auch nicht russische Truppen, vor denen sie am meisten Angst haben. Es sind dies die Kadirowskis, die mehrheitlich Tschetschenen sind und an die Russland zu viele Aufgaben delegiert, die diese mit ihrem kriminellen Background nicht rechtmässig erfüllen.

Was ist Ihre persönliche Lösungsidee für den Tschetschenienkonflikt?

Das habe ich ihnen bisher gewiss deutlich genug zum Ausdruck gebracht. Und wenn nicht, dann bitte ich Sie, mein Votum in der Januarsitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und die Artikel zu Tschetschenien auf meiner HP zu konsultieren.

Welche Prognosen stellen Sie als Experte für die Zukunft Tschetscheniens?

Vieles ist möglich. Es kommt auf den Willen einiger auf sehr verschiedenen Seiten an, es anders besser machen zu wollen. Dann sind positivere Perspektiven möglich.


Andreas Gross



Nach oben

Zurück zur Artikelübersicht