20. Dez. 2005

«Wir sind mit Rückschritten
und Rückfällen konfrontiert»


Interview: Hartmut Hausmann

Auch wenn das Wahlergebnis vom 6. November punktuell korrigiert wurde, von demokratischen Verhältnissen scheint Aserbaidschan Lichtjahre entfernt zu sein. Wie sehen sie die Bilanz nach fünf Jahren Mitgliedschaft im Europarat?

Lichtjahre sind nicht unbedingt angemessene Einheiten zur Bemessung gesellschaftlicher Entwicklungen. Sonst könnten wir ja ganz einpacken. Denn wo wirklich ein Wille ist und eine echte Bereitschaft, sich auf neue Entwicklungen und Ansprüche einzulassen, da lässt sich auch in einem garstigen Umfeld während einiger Jahre etwas bewirken. Zumal wer so reich ist wie Aserbeidschan, das seit über 100 Jahren über viel Öl verfügt, das bisher aber nur wenigen nützlich war. Deshalb wären wir schon dankbar, wenigstens nach einigen Jahren Fortschritte in der Demokratisierung der Lebensverhältnisse in Aserbeidschan feststellen zu können, was für die dort lebenden Menschen schon langwierig genug ist und viel Geduld erfordert. Und da hapert es schon.

Ich bin überzeugt, dass heute viel mehr Menschen in Aserbeidschan wissen, was Demokratie ist und was die Respektierung der Menschenrechte bedeuten würde; doch jene, die in diesem Land über die politische und wirtschaftliche Macht verfügen, haben aus diesem, auch ihrem Wissen viel zu wenig gemacht, vor allem haben waren sie viel zu wenig bereit, ihre grosse Macht mit allen zu teilen; wenige behalten viel zu viel für sich und zu viele leben deshalb immer noch an der Grenze der Armut.

Gewiss sind dank dem Europarat Hunderte von politischen Gefangenen endlich frei worden, viele staatliche Bedienstete haben dank Strassburg Aus- und Weiterbildungskurse besucht, die Öffentlichkeit ist etwas offener und demokratischer geworden und in Baku wissen viel mehr, was wirklich zugunsten von mehr Demokratie zu tun wäre, doch in den entscheidenden Momenten der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, der Organisations- und Meinungsäusserungsfreiheit der Opposition haben wir nicht nur zu wenig Fortschritte gesehen, sondern sind mit Rückschritten und Rückfällen in autokratische Usancen konfrontiert worden; es gibt immer wieder neue politische Gefangene, denen ihr Anspruch auf eine Beurteilung von einer unabhängigen Justiz vorenthalten wird.

Bereuen Sie heute, sich 2001 für die Aufnahme in die Strassburger Demokratieorganisation engagiert zu haben?

Nein, es war entscheidend, dass wir es versucht haben. Gerade in Aserbeidschan, das weltpolitisch an einer Kreuzung von europäischen, iranischen, russischen und asiatisch-autokratischen Einflüssen liegt, und dessen europäische Ausrichtung von innen und von aussen nicht unumstritten ist. Man darf in Europa nicht vergessen, dass auf dem halben Weg zwischen Paris und Peking China durchaus auch als mögliche Option für einen wirtschaftlichen Aufschwung ohne die Geltung der Demokratie und Menschenrechte verstanden wird.

Demokratie und die Achtung der Menschenrechte sind immer kollektive Lernprozesse, die immer einen Anfang, aber nie ein Ende haben. Wer den Willen zu einem entsprechenden Anfang zum Ausdruck bringt, den sollte man unterstützen. Vielleicht hätten wir rückblickend noch intensiver über den Zeitpunkt der Aufnahme nachdenken sollen; doch diese Frage war mit der möglicherweise zu raschen Aufnahme Georgiens entschieden worden, denn die Verhältnisse in den drei kaukasischen Republiken waren zumindest damals sehr ähnlich und hätten eine Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt. Ich bereue es auch deswegen nicht, weil ich persönlich mich ausserordentlich engagiert habe - ich war innert den fünf Jahren 24 Mal dort - und gemeinsam mit meinem estnischen Partner Andres Herkel alles versucht habe, was man von der parlamentarischen Diplomatie und Arbeit erwarten kann. Vor allem seit den sehr problematischen Präsidentschaftswahlen vom Herbst 2003 waren wir praktisch alle zwei Monate dort und haben notwendige Reformen im Wahlrecht, im Umgang mit Andersdenkenden, in der Praxis und der Stellung der Justiz, der Dezentralisierung der staatlichen Macht, der Eigenständigkeit von Parlament, Regionen und Städten angemahnt, dargelegt und im Gespräch mit allen möglichen Leuten auseinandergesetzt - dieser Einsatz wird von vielen einfachen azerischen Bürgerinnen und Bürger geschätzt und begrüsst, was man von vielleicht nicht von allen Aktivitäten der Regierungsseite im Europarat behaupten kann.

Wo sehen Sie die Ursachen für die Reformunfähigkeit?

Ich würde wirklich lieber von der fehlenden Bereitschaft und dem fehlenden Willen zur Reform reden und nicht einfach von Unfähigkeit. Denn die meisten in Aserbeidschan könnten es schon, wenn sie denn nur wollten.

Die Ursachen für diesen fehlenden Willen sind vielfältig, wobei sie je nach Mensch, Clan, Funktion und Zugehörigkeit zu den oligarchischen Kernen unterschiedlich ausgeprägt sein dürften. Einerseits gibt es bequeme Ausreden wie der gegen Armenien verlorene Krieg von 1991/92, was fast eine Million Flüchtlinge und die völkerrechtswidrige Besetzung von etwa einem Fünftel des azerischen Territoriums mit sich brachte. Diese Ausrede ist besonders perfid, denn nur eine einigermassen demokratisch legitimierte Administration wird den Mut und die politische Kraft zu den mit unpopulären Zugeständnissen verbundenen Kompromissen aufbringen, die Frieden mit Armenien schaffen könnten.

Andererseits scheint die Gier nach dem Ölreichtum und einem millionenschweren Konto bei einigen Oligarchen und Amtsträgern zu gross; ebenso die Versuchung, privaten Reichtum gegenüber öffentlichen Errungenschaften zu priorisieren. Wir müssen uns bewusst sein, dass die neue Ölpipeline vom Kaspischen Meer zum Mittelmeer, welche vor zehn Jahren beschlossen wurde und in diesen Tagen erstmals richtig funktioniert, für die kommenden zehn Jahren Einnahmen von über 100 Milliarden Dollar geriert und in dieser Zeit ein wirtschaftliches Wachstum von zehn Prozent pro Jahr erwarten lässt. Möglicherweise fehlt auch die Einsicht, wie bedrohend dieser einseitig genutzte Reichtum für das politische und soziale Gefüge der Gesellschaft sein kann und dass mit Repression niemals die Stabilität bewirkt werden kann, welche die friedliche Nutzung natürlicher Ressourcen erfordert. Der riesige Reichtum an schwarzem Gold ist paradoxerweise zu einer riesigen Gefahr für die azerische Gesellschaft geworden; nur Norwegen hat es bisher geschafft, Öl und Demokratie miteinander zu versöhnen, wobei in Norwegen die Demokratie 100 Jahre älter ist als der Ölreichtum. In Aserbeidschan ist es gerade umgekehrt und dementsprechend schwieriger, obwohl nach dem ersten Weltkrieg in Aserbeidschan für wenige Monate der erste Versuch zur Etablierung einer laizistischen, parlamentarischen Demokratie gelungen war, der dann aber der Sowjetunion zum Opfer fiel ...

Die Kaukasusregion insgesamt ist seit dem auseinander brechen der Sowjetunion ein Unruheherd. Gibt es gemeinsame Traditionen und Verbindungen?

Selbstverständlich, und zwar auf allen Ebenen, das heisst kulturell, soziologisch, historisch, politisch und wirtschaftlich. Um nur die wichtigsten zu nennen: Machtbeziehungen sind immer noch sehr personal, familien- und clangebunden, und basieren weniger auf Institutionen und verrechtlichten Beziehungen. Ebenso fehlen Erfahrungen, welche den Segen vertikaler und horizontaler Macht- und Gewaltenteilungen plausibel machen; dies hat zur Folge, dass einige wenige über alle Macht verfügen und viele über gar keine. Wer aber über zu viel Macht verfügt, beginnt das Privileg zu schätzen , nicht lernen zu müssen - mit verheerenden Konsequenzen. Kritik wird repressiv unterbunden; der Präsident glaubt beurteilen zu können und entscheiden zu dürfen, ob die Opposition was zu sagen hat und wann sie dies tun darf. Politische Auseinandersetzungen werden als Kampf zwischen Leben und Tod missverstanden; wer wie auch immer gewinnt, glaubt den anderen vernichten zu dürfen. Macht ist unglaublich zentralisiert; der einzige und grösste Wert ist das Geld, von jedem Menschen wird angenommen, er sei käuflich. Der Zweck heiligt alle Mittel, Hemmungen im politischen und wirtschaftlichen Bereich sind sehr selten. Ich bin mir allerdings fast sicher, dass dies keine kaukasischen Eigenheiten sind, sondern die Folge jahrzehntelanger, ja Jahrhunderte langer totalitärer Herrschaften, welche die vormodernen Traditionen ländlicher und solidarischer, sehr gastfreundschaftlicher Lebensgemeinschaften fast erdrückt haben.

Sie legen als parlamentarischer Berichterstatter zu Aserbaidschan immer wieder den Finger auf die Wund und werden dementsprechend von der Regierung angefeindet. Fühlen Sie sich noch sicher bei Ihren vielen Reisen in das Land?

Viele einfache Menschen in den Städten und auf dem Land bringen mir unglaublich viel Respekt und Wertschätzung entgegen. Ich muss oft in einem Cafe meinen Tee nicht mehr bezahlen, so viel werde ich eingeladen. Und selbst wenn ich bei Demonstrationen zwischen die "Fronten" gerate, werde ich sowohl von den Polizisten wie auch vom Volk nicht behelligt, im Gegenteil. Angefeindet werde ich vor allem von einigen Vertretern der herrschenden Oligarchie im Präsidialamt, dem eigentlichen Machtzentrum, einigen Ministerien und von einigen Parlamentariern. Diese verunglimpfen mich als Vertreter des internationalen Terrorismus. Kürzlich ist mir auch zugetragen worden, dass die Regierung eine global tätige PR-Firma angeheuert habe, um meinen estnischen Kollegen und mich zu Hause und in Strassburg zu diskreditieren. Dies vor allem im Hinblick auf die Debatte über die Befugnisse der azerischen Delegation im Januar.

Wie soll sich der Europarat nun im Januar bei der Debatte über das Land verhalten?

Wir müssen unterscheiden zwischen dem Ministerkomitee und der Parlamentarischen Versammlung. Das erstere hat die entscheidenden Befugnisse, wird sie aber kaum nutzen, weil dort die diplomatischen Gepflogenheiten vorherrschen und jene, die diese durchbrechen und sich Sorgen machen um das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des Europarates an sich , keine Mehrheit finden. In der Parlamentarischen Versammlung haben wir vergleichsweise wenig Macht. Wir können die Legitimität aus den schwer manipulierten Parlamentswahlen hervorgegangen azerischen Delegation in Frage stellen und ihnen das Stimmrecht verweigern. Dies wird zur Diskussion stehen ebenso wie die Frage, ob wir darüber wirklich im Januar befinden wollen, wo doch die Nachwahlen in den zehn Wahlkreisen, in denen das Ergebnis aus verschiedenen Gründen aufgehoben worden war, erst im Mai stattfinden sollen - eher entgegen den Regeln, welche die Verfassung vorgibt. In der Parlamentarischen Versammlung wird von vielen der Maxime nachgelebt, welche aus der ukrainischen orangenen Revolution hervorging, wonach in Europa Wahlen einem Volk nicht mehr gestohlen werden dürfen. Entsprechend wird es wohl zu harten Diskussionen kommen. Entsprechend werden die Weichen an den Bürositzungen der Parlamentarischen Versammlung vom 9. und 23. Januar gestellt werden: möglicherweise auch noch durch den besuch einer Nachwahlbeobachter-Delegation Mitte des kommenden Monats.

Werden mit einem Ausschluss von der Mitarbeit nicht aber den Interessen der oligarchischen Machthaber an der Regierung in die Hände gespielt, die offenbar weg wollen vom Europarat als lästigem Mahner?

Wie viele von ihnen wirklich weg wollen, ist unklar. Am liebsten wäre den meisten von ihnen wohl die Akkumulation ihres Reichtums, die Dominanz der politischen Szene unter dem Stern des Europarates - was uns aber nicht zuletzt vor grossen Teilen des azerischen Volkes völlig unglaubwürdig machen und einige von ihnen in die Hände der religiösen Fundamentalisten treiben würde, welche vom Zynismus vieler westlicher Politiker und der Diskreditierung der westlichen Werte profitieren - auch dies lässt sich anhand gewisser Wahlergebnisse bereits beweisen. Auch bin ich mir nicht sicher, ob sich einige dieser Ölbusinessmen nicht bewusst sind, dass ein ruiniertes Image weltweit sogar ihre Geschäfte bedrohen könnten und so eine minimale Rücksicht auf demokratische Standards sogar für sie angebracht wäre. Freuen würden sich gewiss einige der iranischen Mullahs, was unserer Sache gewiss auch nicht förderlich wäre.


Andreas Gross



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