22.08.2002

NZZ
Seite 7

Aserbeidschans langer Weg zum Rechtsstaat

Vor dem Referendum zur Verfassungsänderung

In Aserbeidschan findet am 24. August ein Referendum über eine umstrittene Verfassungsänderung statt, und Ende September wird im Europarat ein Zwischenbericht debattiert, in welchem Umfang das im Januar 2001 in den Europarat aufgenommene Land seine Verpflichtungen zur Umsetzung der rechtsstaatlichen Normen erfüllt. Vertreter des Europarats haben das Land unlängst besucht.


uth. Strassburg, 20. August

Aserbeidschan, der östliche Aussenposten Europas am Kaukasus, rückt in diesem Herbst erneut in das Interesse politischer Beobachter. In wenigen Tagen, am 24. August, findet ein Referendum für eine nicht unumstrittene Verfassungsänderung statt, und Ende September wird im Europarat ein Zwischenbericht debattiert, in welchem Umfang das im Januar 2001 in den Europarat aufgenommene Land seine Verpflichtung zur Umsetzung der demokratischen und rechtsstaatlichen Nonnen erfüllt. Der Schweizer Nationalrat Andreas Gross als Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und zuletzt der stellvertretende Generalsekretär der Strassburger Staatenorganisation, Hans Christian Krüger, haben unabhängig voneinander in den letzten Wochen das Land besucht.

Armut, flüchtlinge und Ausreden

Vor dem Referendum, an dem er erneut als Wahlbeobachter teilnehmen wird, empfindet Gross das politische Klima als extrem angespannt Es dränge sich der Eindruck einer in keiner Weise integrierten Gesellschaft auf; an deren Spitze eine politische Führung stehe, deren Legitimität von vielen in Zweifel gezogen werde. Besonders besorgniserregend sei das kaum erkennbare Engagement für eine stärkere gesellschaftliche Integration. Mehr als die Hälfte der Menschen dieses an Bodenschätzen reichen Landes ist sehr arm. Hinzu kommen eine Million Flüchtlinge, etwa 14 Prozent der Bevölkerung, und es herrsche die Meinung, dass dem Land im Krieg mit Armenien vor zehn Jahren mit der Enklave Nagorni Karabach 20 Prozent des Territoriums geraubt worden seien.

Da die Regierung nichts tut, um die Flüchtlinge, die seit einem Jahrzehnt unter menschenunwürdigen Bedingungen in primitivsten Lagern leben müssen, in die Gesellschaft zu integrieren, sondern sie als Faustpfand ihrer aussenpolitischen Ambitionen betrachtet, bleibt der ungelöste Konflikt eine Quelle von explosiver Aggressivität, Unversöhnlichkeit und zugleich eine unbewusste oder bewusste Entschuldigung für alles, was schlecht ist im Staat, sagt Gross. Da Aserbeidschan und Armenien sich bei der Aufnahme in den Europarat dazu verpflichteten, für den Konflikt um Nagorni Karabach eine politische Lösung zu suchen, stand diese Frage auch im Vordergrund von Krügers Gesprächen mit der Regierung in Baku. Obwohl der Europarat seine Vermittlungsdienste anbietet und soeben das 14. Treffen zu dieser Frage zwischen den Präsidenten der beiden Länder stattfand, sind weder Fortschritte noch ein deutliches Interesse, solche zu erreichen, zu erkennen.

Handeln nur unter äusserem Druck

Ein weiterer, für den Europarat nicht akzeptabler Umstand sind die politischen Gefangenen, deren Existenz von der aserischen Regierung geleugnet wird. Immerhin hat es auf Strassburger Druck schon viele Freilassungen gegeben, und es wurde, wie Krüger erklärt, zudem erreicht, dass zwei vom Europarat berufene hochrangige Fachleute die umstrittenen Fälle untersuchen und bei begründetem Verdacht eine Wiederaufnahme der Verfahren verlangen werden. Dies ist auch für Gross ein Beispiel, dass die Regierung für die Erfüllung ihrer Verpflichtungen und den gesellschaftlichen Umbau im Sinne der Demokratie, des Rechtsstaates und der Menschenrechte nur unter entsprechendem Druck reagiert.

Zwar würden viele Europaratsabkommen übernommen, doch was bringe die Ratifikation der Menschenrechtskonvention, wenn aktive Mitglieder von Oppositionsparteien bedrängt würden, nur weil sie Kritik übten? Zu viele Menschen hätten Angst, ihre Meinung zu äussern, Kritik zu üben, zu demonstrieren oder sich zu organisieren. Auch habe er den Eindruck, dass die Gerichte nicht unabhängig genug seien.

Doch auch die Opposition hat nach Auffassung von Gross noch einen erheblichen Lernprozess vor sich. Bei ihrer Machtübernahme würde sich zurzeit wohl wenig bessern. Vor diesem Hintergrund wurde die von Aserbeidschans Präsident Haydar Aliev angestrebte Verfassungsänderung von Strassburg zunächst überwiegend kritisch betrachtet. Das vorgesehene Referendum stellte in Wirklichkeit ein klassisches Plebiszit dar, weil mit 39 Paragraphen 24 Verfassungsartikel geändert werden sollen, und zwar mit einem einzigen Ja oder Nein. Dabei geht es um den über das Verhältniswahlrecht gewählten Teil des Parlamentes, die Ersetzung des Parlamentspräsidenten durch den vom Präsidenten ernannten Premierminister als zweiten Mann im Staat und möglichen Nachfolger des Präsidenten, wenn diesem etwas passiert, die Ernennung der Ombudsperson durch den Präsidenten, die Änderung des für die Wahl des Präsidenten notwendigen Quorums von einer Zweidrittel- zu einer einfachen Mehrheit und die Reformen im Gerichtswesen in einem einzigen Paket.

Runder Tisch am Fernsehen

Erst nachdem auf Kritik von Europarat und OSZE hin Ende Juli auch noch das aserische Parlament über das Referendum beriet und nachdem die vom Schweizer Botschafter Burkart geleitete OSZE-Mission in Baku acht Diskussionen am runden Tisch zu den einzelnen Themenbereichen mit Vertretern von Regierung und Opposition veranstaltet hatte, die vom Fernsehen sogar live übertragen wurden, besteht beim Referendum nun die Möglichkeit, den acht Themenkomplexen einzeln die Zustimmung zu geben oder zu verweigern. Als sehr problematisch sieht Gross aber die Vorschrift an, dass wie in Italien oder früher in der Weimarer Republik die Verfassungsrevisionen nur gültig werden, wenn mindestens 50 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung teilgenommen haben. Dies verführe die Opposition immer zu Boykottbestrebungen und ermutige andererseits die Regierung, auf die Bürger einen mehr oder weniger schwerwiegenden Druck auszuüben.

Als wesentlicher Fortschritt wird von Krüger dagegen die Passage der Verfassungsänderung gewertet, die in Zukunft einen unmittelbaren Zugang der Bürger zum Verfassungsgericht des Landes in Form einer Verfassungsbeschwerde ermöglichen soll. Dies werde den Bürgern Aserbeidschans, die sich in ihren Grundrechten verletzt fühlten, auch den Weg zum Strassburger Menschenrechtsgerichtshof erleichtern.

Andreas Gross

 

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