24. Juni 2002

Europarat
Protokoll AS (2002) CR17
Provisorische Ausgabe

Wir können unsere Arbeit noch besser tun

GROSS (Schweiz). - Meine Damen und Herren! Der so genannte Progress Report hat mehrere Teile. Im Hauptteil wird dargestellt, was wir seit unserer letzten Sitzung institutionell gemacht haben. Wir hatten in Luzern vor allem das Standing Committee, dann fanden verschiedene Bureau-Sitzungen statt. Das, was wir dort gemacht haben, finden Sie ausführlich im Bericht. Im zweiten Kapitel finden Sie die Aussenbeziehungen zu den anderen Organisationen Europas, zum Beispiel die Beobachtung von vorgesehenen Wahlen. In der Zwischenzeit haben jedoch keine stattgefunden. Ausserdem wird über die finanziellen und sonstigen Angelegenheiten berichtet.

Ob das, was wir getan haben, ein Fortschritt ist, sieht man diesem Bericht nicht an, das wird sich erst weisen. Ich werde noch darauf zurückkommen. Fortschritt ist vor allem in Belarus gesucht worden. Ein wichtiger Ausschuss unseres Rates reiste nach Belarus, er hat dort gearbeitet. Herr Behrendt wird später in Bezug auf den Zusatz II selbst noch eigens dazu Stellung nehmen und Ihnen berichten. Die anderen Zusätze beziehen sich auf die Konferenz des Stabilitätspaktes auf dem Balkan sowie auf die Wahl des stellvertretenden Generalsekretärs, die wir in dieser Woche noch vor uns haben.

Erlauben Sie mir, neben diesem institutionellen, relativ trockenen formellen Teil, Sie in meinem persönlichen Namen noch auf drei Dinge aufmerksam zu machen, die uns beschäftigen müssen, die schockieren, die gleichzeitig aber auch zeigen, weil wir eben daran arbeiten, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Diese Dinge müssen uns unbedingt dazu ermutigen, noch besser und noch sorgfältiger zu arbeiten.

Das Erste bezieht sich auf den Tod durch Ertrinken von vier Flüchtlingen vor der apulischen Küste in Italien. Wir waren Ende Mai vor Ort und haben ein Seminar über Flüchtlinge abgehalten, die sozusagen über das Wasser kommen, die an den Küsten Europas stranden, die dem Elend entrinnen wollen und dort Arbeit suchen möchten, wo sie Arbeit zu finden hoffen. Wir haben über die Schlepperorganisationen und über die polizeilichen Massnahmen diskutiert, aber eine Woche später sind auf diesen Schiffen wieder 100 Flüchtlinge gekommen. Sie wurden von den Schleppern brutalst behandelt, man hat sie auf hoher See mit Messern gezwungen, über Bord zu gehen - 100 Meter vor der Küste! Vier von ihnen haben diese Tortur nicht überstanden, sie haben mit dem Leben bezahlt.

Sie sind Opfer dreier Umstände geworden: des Elends in ihren Heimatländern, in der Türkei, in Kurdistan, in Afrika. Aus all diesen Gegenden flüchtend, kommen derzeit immer wieder Flüchtlinge vor den Küsten Griechenlands, Spaniens oder Italiens um. Sie sind nicht nur Opfer des Elends in ihren Heimatländern, sie sind auch Opfer unserer Unfähigkeit, diesem Elend beizukommen, es zu mildern. Sie sind auch Opfer der Brutalität jener Menschen, die mit anderer Menschen Schicksal grausame Geschäfte machen.

Dieses Seminar hat sich zwar mit diesem Thema befasst, es konnte dieses tragische Ereignis jedoch nicht verhindern. Ich denke, wir sollten aus diesem Ereignis lernen, dass wir auf dem richtigen Weg sind, aber diesen Weg noch viel entschiedener gehen müssen. Dies müssen vor allem auch unsere Regierungen tun, wie der Herr Präsident in seinen einleitenden Worten gesagt hat. Ich möchte Sie bitten, nicht einfach den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, sondern unserer Verpflichtung nachzukommen, Leben überall zu schützen und Lebenschancen überall zu fördern, woher auch immer diese Menschen kommen. Diese Menschen kommen nicht freiwillig zu uns, sie möchten dort bleiben, wo sie geboren sind, aber wenn sie dort nicht leben können, dann suchen sie ihre Zukunft bei uns. Und wir müssen anders als so brutal mit ihnen umgehen, wie es diese 100 Menschen an der Küste Italiens erfahren haben.

Das zweite Ereignis hat noch viel weniger Schlagzeilen im übrigen Europa gemacht. In einem unserer 44 Mitgliedstaaten sind Bürger von der eigenen Polizei erschossen worden. Ich rede von einer kleinen Stadt mit 8000 Einwohnern im Norden von Baku, Nardaran. Das ist eine Stadt, in der die Menschen seit Monaten für einen Bürgermeister kämpfen, der sie vertritt und für anständige soziale und wirtschaftliche Lebensumstände eintritt. Der Konflikt ist am 3. Juni dieses Jahres um 21.20 Uhr eskaliert. Da haben das erste Mal Polizeieinheiten auf demonstrierende Menschen geschossen, kurz vor Mitternacht das zweite Mal. Zwei (beachten Sie bitte Anmerkung 1 unten) Menschen sind umgekommen, über 50 sind schwer verletzt worden, Dutzende sind verhaftet worden. Einige sind seitdem befreit worden - auch Dank des Einsatzes des italienischen Botschafters, der eine Delegation des Europarates dorthin führte - aber noch nicht alle sind frei.

Wichtig ist: Es darf in einer Demokratie nicht passieren - und alle Mitgliedstaaten des Europarates sollten Demokratien sein - dass Menschen, die selber keine bewaffnete Gewalt angewendet haben, von eigenen Polizeieinheiten umgebracht werden. Immer wenn eine solche Konfrontation passiert, dann ist es ein Zeichen der Schwäche, und zwar ein Zeichen der Schwäche unsererseits, dass wir bisher auf unserem Kontinent noch nicht Verhältnisse aufbauen konnten, die es uns erlauben, dass mit Freiheit notwendigerweise verbundene Konflikte anders als mit Gewalt ausgetragen werden.

Es gibt immer wieder Interessenkonflikte, es gibt immer wieder Konfrontationen, aber es sollte unsere Anstrengung sein zu verhindern, dass Menschen wegen staatlicher Gewalt umkommen, und so sogar von ihren eigenen Landsleuten umgebracht werden.

Der dritte Punkt ist vielleicht noch heikler, weil er weniger evident ist. Viele haben heute den Eindruck, dass wir auf einem Kontinent der Ungleichzeitigkeit leben. Ich meine aber, er ist gar nicht so ungleichzeitig, wie wir meinen. In Zentraleuropa haben Sozialdemokraten Wahlen gewonnen, in Westeuropa haben sie sie verloren. Letztlich war aber in beiden Teilen Europas die gleiche Motivation der Bürger, so glaube ich, entscheidend, denn in beiden Teilen Europas möchten die Bürger Demokratie als Schutz auch gegenüber marktwirtschaftlichen Kräften verstehen. Sie möchten sich aufgehoben fühlen und sie waren enttäuscht, dass die Sozialdemokraten im Westen das nicht liefern konnten. Im Osten hoffen sie, dass die Sozialdemokraten dies aber tun können. Letztlich erhoffen auch im Westen jene, die anders gewählt haben, das Gleiche von denen, die sie in die jeweilige Regierung eingesetzt haben. Auch dort geht es um die Demokratie.

Demokratie ist mehr als die Organisation der Mehrheit, Demokratie ist das Versprechen, dass die Menschen in sozial ausgeglichenen Verhältnissen leben können. Das, was in den letzten zwei, drei Monaten passiert ist, zeigt, dass zu viele Menschen in Europa - in West- als auch in Osteuropa - das heute vermissen. Deshalb sollten wir uns ermutigt fühlen, unsere Arbeit noch besser zu tun, als wir es schon bisher versucht haben. - Vielen Dank. (Beifall)

Andreas Gross

 

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Anmerkung 1

Non-Government-Organisationen haben mich diese Woche darüber informiert, dass hier eine Fehlinformation verbreitet worden ist. Es ist "nur" ein Mensch dieser Schiesserei zum Opfer gefallen (AG 30.6.02)

 

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