29.08.2002

Tages-Anzeiger
Rubrik: Hintergrund,
Seite 2

Kalifornien nahm sich die Schweiz als Vorbild

Auch wenn dies- und jenseits des Atlantiks Parallelen im Gebrauch der Volksrechte bestehen, unterscheiden sich die direktdemokratischen Kulturen doch sehr.

Das meiste war gleich: Die Missstände (korruptes Parlament), die Motive (das letzte Wort dem Volk!) und die Initianten (eine Koalition der «kleinen Leute»). Ebenso die Hoffnungen auf mehr Gerechtigkeit und die Gegner - die Eisenbahnbarone und die Mehrbesseren. Gleich war auch die Medizin, mit welcher «das Volk» den «mächtigen Herren» Einhalt gebieten wollte: Volksinitiative und Referendum. In Zürich nannten sie es «Direkte Gesetzgebung durch das Volk», in den US-Bundesstaaten «legislation by the people» oder «direct legislation». Was in Zürich der Demokratischen Bewegung gelang, vollbrachte in den US-Bundesstaaten Kalifornien und Oregon das Populist Movement und das Progressive Movement: unblutige demokratische Revolutionen, in denen die damals noch vorwiegend parlamentarischen Systeme um direktdemokratische Rechte erweitert wurden.

Die Schweiz war voraus

Der einzige unterschied: Zwischen den zürcherischen und schweizerischen Bewegungen und den amerikanischen Demokratisierungsbestrebungen liegen 40 Jahre. Was die Zürcher Bewegung um Karl Bürkli, Salomon Bleuler und Friedrich Albert Lange zwischen 1867 und 1870 durchsetzte und was auch auf eidgenössischer Ebene 1874 zum fakultativen Referendum und 1891 zum Volksinitiativrecht führte, vollbrachten die Populisten und Progressiven um den New Yorker Typografen James W. Sullivan, dem Oregoner Simon U'Ren und dem Kalifornier Hiram Johnson zwischen 1902 und 1918. 25 US-Bundesstaaten führten damals die Volksrechte ein. Das Vorbild war die Schweiz: James W. Sullivan schrieb sein Buch «Direct Legislation by the Citizenship through the Initiative and Referendum», das die Idee der Volksrechte in den USA recht eigentlich lancierte, 1891 nach einem Besuch beim alten Zürcher Pionier der Sozialdemokratie, Karl Bürkli (1824 - 1901). So findet sich bis heute in der Zentralbibliothek das Büchlein Sullivans mit einer Widmung an Bürkli, mit der sich der Amerikaner beim Zürcher bedankt hat.

Auch die Praxis im Gebrauch der Volksrechte kennt dies- und jenseits des Atlantiks zahlreiche Parallelen. Doch im Design der Volksrechte unterscheiden sich die meisten US-Bundesstaaten und die Schweiz wesentlich, was zu zwei sehr unterschiedlichen Kulturen der Direkten Demokratie führt. In den USA geht alles viel schneller, einseitiger und unreflektierter als in der Schweiz. In Kalifornien lassen sich im März die unterschriften für ein Volksbegehren einreichen und im November wird auch schon abgestimmt, ohne dass das Parlament wie in der Schweiz dazu auch nur Stellung genommen, geschweige denn einen Gegenvorschlag in Erwägung ziehen konnte.

Dies führte vor allem in Kalifornien und Oregon dazu, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine alte Befürchtung bewahrheitet und Big Business sich jene Volksrechte zu Eigen gemacht hat, die einmal zu dessen Zähmung erfunden worden waren. So hat sich in Kalifornien eine eigentliche Initiativindustrie etabliert, bei der man mit viel Geld jede Volksinitiative kaufen kann: Eingespielte Firmen übernehmen die möglichst süffige Formulierung von Titel und Text, ebenso das unterschriftensammeln und das Lobbying der Presse sowie die Werbestrategien.

Lohnende Denkanstösse

Um diese Mängel zu beheben, haben staatliche Kommissionen Dinge vorgeschlagen, die wir in der Schweiz längst kennen: Etwa die offizielle Beurteilung der sachlichen Angemessenheit des Titels oder eine Verlängerung der Sammelfrist, damit auch nicht bezahlte unterschriftensammler eine Chance haben. Ausserdem soll das Parlament immer einbezogen werden und das Recht auf einen Gegenvorschlag haben. Schliesslich möchte man die Zahl der Abstimmungsgegenstände pro Abstimmungstermin beschränken und die Herkunft der Werbegelder offen legen.

Zum Teil werden in Amerika Reformen erwogen, die sich auch die Schweiz überlegen sollte: zum Beispiel die Identifizierung der Unterschriftensammler oder die Transparenz der eingesetzten Geldmittel. Ebenso macht man sich in den USA Gedanken, wie die neuen elektronischen Kommunikationsmittel kreativer genutzt werden könnten. Die öffentliche Meinungs- und Willensbildung kann sicher auch in der Schweiz noch verbessert werden. Denn nichts bestimmt die Qualität des Ergebnisses mehr als der Prozess, der zu diesem Resultat geführt hat.

Der Zürcher SP-Nationalrat und Politikwissenschafter arbeitet seit bald drei Jahrzehnten über die Direkte Demokratie im weltweiten Vergleich und lehrt an den deutschen Universitäten von Marburg und Speyer.

Andreas Gross

 

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