23.09.2002


Utopie und Geschichte

Das Plebiszit verkehrt die Direkte Demokratie
in ihr Gegenteil


Statt dass die Demokratie mittels der Direkten Demokratie gleichsam demokratisiert wird, indem die BürgerInnen zusätzlich zum Wahlrecht die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Volksinitiative und des Referendums bekommen, gibt das Plebiszit der Regierung ein zusätzliches Instrument in die Hand, mit selbst angesetzten und oft auch suggestiv formulierten Volksbefragungen zu spielen und meist nicht nur das Parlament sondern auch die Demokratie zu schwächen.

Um dies zu verstehen, müssen wir die Verfahren der Direkten Demokratie betonen, uns daran erinnern, dass ihre Ausgestaltung über die Güte der Direkten Demokratie entscheidet, und die zentrale Frage ins Zentrum stellen, wer denn eine Volksbefragung auslösen kann. In einer echten Direkten Demokratie steht genau in der Verfassung, wann die BügerInnen konsultiert werden müssen (obligatorischerweise beispielsweise bei Verfassungsänderungen), wann sie selber dafür sorgen können, dass sie konsultiert werden müssen, beispielsweise wenn sie Verfassungsrevisionen vorschlagen oder über Gesetze abstimmen wollen, die im Parlament beschlossen worden sind.

In einem Plebiszit bestimmt hingegen die Macht, meist der Staatspräsident, manchmal auch die Regierung, wann das Volk zu welchen Themen befragt werden soll. Oft geht es dabei darum, das Parlament zu umgehen, es unter Druck des Volkes zu setzen oder eine der Regierungskoalition missliebiges Problem auszulagern und gesondert zur Abstimmung zu bringen, um beispielsweise damit eine Wahl nicht belasten und so die eigenen Chancen kompromittieren zu müssen.

Eine unselige Tradition hat das Plebiszit in Frankreich. Dort hat zwar Condorcet in revolutionären Zeiten die echte Direkte Demokratie nach amerikanischen Anregungen entwickelt und propagiert. Doch real möglich waren ab 1853 bis heute nur obrigkeitlich ausgelöste Plebiszite. Das berühmteste unter denjenigen aus jüngerer Zeit war das Plebiszit Mitterands über den Maastrichter/EU/Vertrag, mit dem er das dänische Nein neutralisieren und seine bürgerlichen Kontrahenten spalten und deren europäischen Teil für die Legitimation seiner eigenen linken Macht gegen ihren Willen einspannen wollte.

Es gibt fast keinen Diktator seit Napoleon III, Hitler oder Pinochet, der nicht immer wieder den Versuchungen des Plebiszites erlag. Das letzte hoch problematische Plebiszit war dasjenige des autoritär regierenden aserbeidschanischen Präsidenten Aliev, der am 24.August 2002 über 39 Verfassungsänderungen beschliessen liess, die er bloss zwei Monate zuvor bekannt gegeben hatte (mehr dazu finden Sie unter diesem Link).

Plebiszite diskreditieren die Direkte Demokratie und liefern deren Gegnern irreführende Argumente, denen viele oft nicht antworten können, weil die entscheidenden Unterschiede in den Verfahren und deren wesentliche Folgen hinter der scheinbaren gleichen Ausdrucksform nicht fein genug betont werden.

Zu dieser Irreführung trägt zudem bei, dass in Deutschland meist auch dann von plebiszitären Elementen gesprochen wird, wenn von der Direkten Demokratie die Rede ist, was die Verunsicherungen noch vergrössert. Auch in der Schweiz gibt es immer wieder Journalisten und auch Wissenschafter, die die wichtigen kleinen Unterschiede nicht machen. Sogar der renommierte Schaffhauser Politologe Leonhard Neidhart publizierte noch 1970 seinen Klassiker zur Direkten Demokratie unter dem Titel der plebiszitären Demokratie, was für deren emanzipativen Potenziale und für den Weg, auf dem sich diese verwirklichen lassen, ruinös ist.

Umso wichtiger ist es, in Zukunft auf die kleinen Unterschiede zu achten. Denn mit Plebisziten wird die Freiheit nicht gemehrt und die Demokratie nicht befreit, mit der Stärkung und Verfeinerung der direktdemokratischen Elemente und Verfahren aber schon, weshalb sich denn auch derzeit so viele auf der ganzen Welt darum so bemühen.

Andreas Gross

 

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