2. Juni 2005

Tages-Anzeiger



Read the comment
of A. Zakayev
("Chechen-News")


Read the comment
in the China-View
("Xinhuanet")

«Tschetschenien braucht echte Autonomie»

Russland ist nach aussen ein starker, nach innen jedoch ein eher schwacher Staat. Seine Machtdefizite demonstriere Moskau in Tschetschenien, meint Andreas Gross, Berichterstatter des Europarates für Tschetschenien.

Mit Andreas Gross sprach Roman Berger. Andreas Gross ist Zürcher Nationalrat (SP), Präsident der Schweizer Europaratsdelegation und seit 2003 Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarates für Tschetschenien.

Seit mehr als zehn Jahren herrschen in Tschetschenien Gewalt, Zerstörung und Chaos. Haben Sie eine Vorstellung, wie hier Frieden entstehen könnte?

Die Tschetschenen haben seit der Eroberung durch die Zaren vor 200 Jahren mit Russland ein Problem. Traumatisiert wurde es durch die Deportation des tschetschenischen Volkes unter Stalin und natürlich durch die zwei Kriege nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Einen Ausweg bietet heute nur eine echte Autonomie innerhalb der Russischen Föderation. Erfolgreiche Autonomien sind aber nur in rechtsstaatlichen und demokratischen Verhältnissen möglich, wo Menschen Vertrauen haben in die Institutionen und wo Macht nicht an Personen gebunden ist. Dies zeigen erfolgreiche Autonomielösungen in Europa wie Südtirol, die Aland-Inseln oder Grönland. Russland befindet sich aber nur 15 Jahre nach dem Ende des alten Regimes immer noch in einer posttotalitären Phase. Als Atommacht und ständiges Mitglied des UNO- Sicherheitsrates ist Russland nach aussen ein starker Staat geblieben. Nach innen jedoch ist Russland ein sehr schwacher Staat, in dem die einfachsten demokratischen Institutionen nicht funktionieren. Es gibt noch keine unabhängige Justiz, keine Gewaltentrennung.

Sie sind seit zwei Jahren Berichterstatter des Europarates für Tschetschenien. Wer sind Ihre Ansprechpartner in Moskau und was können Sie bewirken?

Zu meinem Erstaunen musste ich feststellen, dass es in der Regierung nur wenige Leute gibt, die sich wirklich mit Tschetschenien befassen. Und diese Wenigen wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen, wenn sie etwas unternehmen wollen. Mit Ausnahme des Präsidenten natürlich, der aber viele andere Dossiers zu betreuen hat.
Mein wichtigster Ansprechpartner ist der Präsident der aussenpolitischen Kommission der Duma und Vorsitzende der russischen Delegation im Europarat, Konstantin Kosachev. Mit Hilfe dieses mutigen und integren ehemaligen Diplomaten versuche ich die beschränkten Möglichkeiten des Europarates auszuschöpfen. Weil wir im Konsens arbeiten, brauchen wir immer auch die Zustimmung von Russland. Das ist die Schwäche und Stärke des Europarates. Russland ist Mitglied, fühlt sich in dieser Institution einigermassen zu Hause. Moskau kann aber auch bremsen und blockieren.

Entscheidend ist aber trotzdem, was im Kreml gedacht wird. Präsident Putin hat oft von einer politischen Lösung für Tschetschenien gesprochen. Will er das aber auch?

Auf diese Frage könnte ich nur nach einem Gespräch mit Präsident Putin antworten, um das ich seit vergangenen August ersuche. Zudem habe ich gelernt, dass wir zuerst seinen Begriff des Politischen klären müssen. Wir verstehen unter Politik eine Verständigung und nicht einfach die Durchsetzung des eigenen Standpunktes.
Ich habe mit dem Menschenrechtskommissar des Europarates, Alvaro Gil-Robles, gesprochen, der vor kurzem Putin einen sehr kritischen Bericht übergeben hat. Putin habe ihm versichert, dass er die Kritik ernst nehme - womöglich ernster als Bundesrat Blocher die Kritik des gleichen Menschenrechtskommissars an der Asylpolitik der Schweiz.

Tatsache ist aber: Russland hat in Tschetschenien immer noch mehrere zehntausend Truppen stationiert und laut unabhängigen Beobachtern kommt es täglich zu schweren Menschenrechts-Verletzungen.

Es tönt paradox: Im Gegensatz zu vor fünf oder noch vor drei Jahren scheint mir Russlands Position in Tschetschenien eher schwächer geworden zu sein. Die reale Macht liegt in den Händen einer privaten, terroristischen Banditenarmee, angeführt vom Sohn des ehemaligen Präsidenten Kadyrov, der im April 2004 bei einem Attentat getötet wurde. Kadyrov jr. ist formell Vizepremierminister hat aber ein sehr gespanntes Verhältnis zu Tschetscheniens neuen Präsidenten Alu Alchanow.
Kadyrow rekrutiert seine Leute auf besonders grausame Art. Er lässt Angehörige von Rebellen entführen und foltern. Unter dem Druck einer solch brutalen Erpressung sind dann einige Rebellen bereit, zur Armee von Kadyrow überzutreten. Das zeigt, wie unstabil die Verhältnisse in Tschetschenien sind. Alle haben Angst voreinander. Fakt ist aber: Der Kreml scheint sich zu schwach zu fühlen, um diese rund 4500 Mann starke Kadyrov-Armee loszuwerden.

Aber Putin hat doch eben diesen Kadyrov jr. noch vor einem Jahr im Kreml empfangen und ihn mit einem Orden ausgezeichnet?

Putin sieht heute wahrscheinlich ein, dass es ein Fehler war, auf Kadyrov jr. zu setzen. Aber über solche Fehler und Schwächen wird in Moskau nicht gesprochen. Immer wenn ich versucht habe, dieses Thema zur Sprache zu bringen, versucht man abzuwiegeln. Man ist sich nicht gewohnt, offen über Probleme und Schwächen zu sprechen, was es natürlich erschwert, sie zu überwinden.

Wie realistisch ist eine Autonomielösung für Tschetschenien, wenn Russland unter Putin wieder zu einer zentralistischen Ordnung zurückkehrt?

Die Eigenständigkeit der über 80 "Subjekte der Föderation" wird reduziert. Trotz dieser Rezentralisierung ist man sich im Kreml sehr wohl bewusst: Ohne eine besondere Autonomie gibt es keine Lösung in Tschetschenien. Die Frage ist nur wie viel. Und darüber wird selbst zwischen Moskau und der prorussischen Regierung in Grosny hart gerungen.
Moskau möchte Tschetschenien behalten, gibt aber diesem Volk kein zu Hause, wo es sich wohl fühlen kann. Russland muss lernen, mit Tschetschenien anders umzugehen. Posttotalitäre Herrscher wie Putin können aber mit der Gesellschaft nicht umgehen. Sie haben nicht verstanden, dass mit mündigen Bürgern leichter zu regieren wäre.

Wie beurteilen Sie den Zustand der tschetschenischen Bevölkerung, wäre sie für eine Autonomie bereit?

Etwa fünf Prozent der Bevölkerung unterstützen den Terroristen Basajew, der für das Massaker in Beslan verantwortlich ist. Diese Leute kommen als Partner einer Autonomielösung nicht in Frage. Sie müssen gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Rund 10 bis 20 Prozent wollen eine Verhandlungslösung, die der erste gewählte Präsident und in diesem Frühjahr ermordete Aslam Maschadow vertreten hat. Mit dieser Gruppierung bin ich über Achmed Zakajew, der in London Asyl erhalten hat, in Kontakt. Zakajew akzeptiert die vom Europarat beschlossenen Rahmenbedingungen: Ablehnung des Terrors, Autonomielösung innerhalb der russischen Grenzen, die aber in die Zukunft offen ist und einmal auch zu einer Unabhängigkeit führen könnte. Die restlichen 70 Prozent der Bevölkerung wollen einfach ein Ende der Gewalt und ohne Angst überleben.

Moskau führt in Tschetschenien nach seiner Lesart einen "Kampf gegen den internationalen Terrorismus". Die USA und führende Staaten der EU sind mit dieser Haltung einverstanden. Für sie ist Tschetschenien kein Thema mehr. Warum soll Putin unter diesen Umständen auf Ratschläge von aussen hören?

Mit internationalem Terrorismus hat die Gewalt in Tschetschenien nur am Rande zu tun. Zudem ist im Unterschied zur EU der Europarat für Putin nicht "aussen". Russland sieht sich im Europarat als Teil des "Europäischen Hauses" (Gorbatschow). Das ist der Unterschied zur EU, der UNO oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), wo sich Russland fremd fühlt. Und nur weil einige westliche Staatsmänner sich "Freunde Putins" nennen, heisst das noch lange nicht, dass Tschetschenien vergessen ist. Dennoch ist es schwierig, wenn die fünf wichtigsten europäischen Politiker nur am russischen Oel und Gas interessiert sind und die Gewalt in Tschetschenien einfach ausblenden. Sie müssten dem Kreml zu verstehen geben, welch grossen Schaden die Gewaltspirale im Kaukasus langfristig in der ganzen russischen Gesellschaft anrichtet. Russland leidet heute unter einem "Tschetschenien - Syndrom", einer Brutalisierung und Kriminalisierung der Gesellschaft, ähnlich wie die USA nach dem Vietnamkrieg. Der Terror in Tschetschenien hat schon die ganze Region angezündet, auch Moskau wurde betroffen.
Russland hat heute fliessende Uebergänge nach Europa. In vielen Grosstädten Europas gibt es skrupellose und zu allem entschlossene Terroristen, die - wie in Beslan - Schüler und Schülerinnen als Geiseln nehmen könnten. Der Terror wird geschürt, wenn in Tschetschenien Wahlen veranstaltet werden, welche die andere Seite nicht integrieren und wo Menschen dann als letztes Mittel zum Terror greifen. Der tschetschenische Terror kann ganz Europa in Flammen setzen. Das aber wird von unseren Politikern nicht erkannt.


Andreas Gross




Sainap Gaschajewa - Menschenrechtsaktivistin in Tschetschenien
Coca - die Taube aus Tschetschenien

Von Roman Berger

Zerstörung, Terror, Angst und Hoffnungslosigkeit. Dafür stehen heute Tschetschenien, die einst blühende Stadt Grosny, und - seit der Geiselname in Beslan - ganz Südrussland. Tschetschenien ist eine geschlossene Zone geworden, aus der Journalisten nicht mehr frei berichten dürfen. Wichtige westliche Regierungen schweigen zur Gewalt in Tschetschenien - aus Rücksicht auf wirtschaftliche und geostrategische Interessen.

Dieses tödliche Schweigen wollen tschetschenische Frauen durchbrechen. Sie nennen ihre Bewegung «Echo des Krieges». Ihr Echo auf die von Männern dominierte Welt des Terrors und der Gewalt soll aber gleichzeitig auch ein Zeichen der Hoffnung sein. Diese Haltung ist zu spüren, wenn man der tschetschenischen Menschenrechtsaktivistin Sainap Gaschajewa begegnet. «Wir wollen Tschetschenien von innen zeigen und einen anderen Weg weisen,» erklärt die rund 50 jährige Frau. Sainap, von ihrer Familie beim Kosenamen Coca, die Taube, genannt, steht der Bewegung «Echo des Krieges» vor und ist Leitfigur im Film des Schweizer Regisseurs Eric Bergkraut «Coca - die Taube aus Tschetschenien».

Seit 1995 hat die Tschetschenin auf Video Kriegsopfer und Massaker dokumentiert, Bilder, wie sie an den TV-Nachrichten kaum je zu sehen sind. «Er atmet noch», kommentiert Gaschajewa eine Aufnahme. Und dann wird man Zeuge der letzten Sekunden im Leben eines Knaben, dessen Unterleib und Beine völlig zerfetzt sind. «Wir waren überzeugt, den Krieg beenden zu können. Es herrschte eine Aufbruchstimmung», erinnert Sainap an den ersten Krieg (1994 - 1996). Damals hätten sie zusammen mit russischen Soldatenmüttern gegen den Krieg protestiert.

«Heute sind wir allein und isoliert,» so beschreibt Gaschajewa die Stimmung seit dem zweiten Krieg, den 1999 Wladimir Putin vom Zaun gerissen hat. Die Zusammenarbeit mit den russischen Soldatenmüttern klappe nicht mehr. Die Vertreter der «Organisation für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa» (OSZE) und des Europarates, denen Russland angehört, haben Tschetschenien verlassen. «Propaganda der russischen Regierung, Angst, Einschüchterung und Gewalt» macht die Frau dafür verantwortlich.

Trotzdem gibt die Tschetschenin nicht auf. Sie ist überzeugt, dass ihr Bild - und Filmarchiv einmal einem internationalen Tribunal als Beweismaterial dienen wird, wenn sich die Staatenwelt für den vergessenen Krieg interessieren wird und dann die Verantwortlichen von allen Seiten zur Rechenschaft gezogen werden. «Irgendwann einmal, vielleicht in 10 oder 15 Jahren». Das ist für Sainap «das Licht im Tunnel, ohne das niemand leben kann».

«Ich habe keine Verwandte, die im Krieg umgekommen oder verschwunden sind. Aber ich spüre eine Verantwortung gegenüber jenen, deren Tod ich hundertfach festgehalten habe,» erklärt Gaschajewa. Ihre Aufgabe, das Dokumentieren von Grausamkeit und Tod, ist leider noch nicht beendet. Mit der Kamera unter der weiten Kleidung versteckt, zieht sie weiter durch Tschetscheniens Dörfer und Städte. Gefahren drohen ihr heute von vielen Seiten: Von einer unkontrollierten russischen Soldateska, aber auch von fanatisierten Wahhabiten und kriminalisierten tschetschenischen Privatarmeen, die nicht davor zurückschrecken, ihre eigenen Landsleute zu terrorisieren und zu töten.

Nach oben

Zurück zur Artikelübersicht