17. Feb. 2005

NZZ

Der Europarat organisiert einen runden Tisch
Versuch eines Dialoges über Tschetschenien

uth.
Strassburg, 17. Februar

In Tschetschenien haben weder die militärische Intervention Russlands noch die blutigen Anschläge der Terroristen eine Lösung des Konflikts in Sicht gebracht. Deshalb versucht der Europarat einen Dialog mit allen Beteiligten an einem runden Tisch über mögliche Formen der Autonomie für die Kaukasus-Republik zu eröffnen.

Der auf Initiative des Tschetschenien-Berichterstatters Andreas Gross aus der Schweiz im Oktober 2004 von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats beschlossene runde Tisch zu Tschetschenien wird am 21. März in Strassburg eröffnet. Eine zweite Runde wird später voraussichtlich in Moskau stattfinden. Die unter dem Vorsitz von Gross und seinem Stellvertreter, dem neuen russischen Delegationsleiter beim Europarat, Konstantin Kosatschew, versammelte Runde von etwa 55 Teilnehmern setzt sich zu je einem Drittel zusammen aus Parlamentariern und Fachleuten des Europarats, aus russlandtreuen Tschetschenen der dortigen Administration und Vertretern von oppositionellen Tschetschenen, die nicht zu den Terroristen gehören.

Gegen Misstrauen und hohe Erwartungen

Man habe damit, zeigt sich Gross zufrieden, eine Diskussionsrunde zusammengebracht mit Leuten, die in weitem Sinne die Zivilgesellschaft Tschetscheniens repräsentierten. Dazu zählten nicht nur Mitglieder der NGO oder Soldatenmütter, sondern eben auch Oppositionelle, die verstanden hätten, dass man mit Waffen nicht weiterkomme, sondern dass man miteinander reden müsse. Einzige Voraussetzung dieses Gesprächs sei der Konsens, künftig auf Gewalt verzichten zu wollen.

Vor dem Hintergrund, dass selbst die jüngsten Verhandlungen zwischen den Regierungen in Moskau und Grosny über den künftigen Status der tschetschenischen Teilrepublik im Rahmen der Russischen Föderation offenbar in einer Sackgasse stecken, ist man in der Strassburger 46-Staaten-Organisation stolz, den Dialog zwischen allen Kontrahenten trotz allen Widerständen auf den Weg gebracht zu haben. Ursprünglich sei die Initiative als illusionistisch bezeichnet worden, weil viele sowohl auf tschetschenischer Seite als auch im Europarat das Klischee pflegten, dass man russischen Regierungsvertretern nicht trauen könne oder diese nicht lernfähig seien. Doch alles, was mit Kosatschew verabredet oder beschlossen worden sei, habe sich in eine gute Richtung entwickelt.

Andererseits warnt Gross vor zu hohen Erwartungen und wehrt sich dagegen, dass Kollegen, wie der deutsche Berichterstatter zu Russland Rudolf Bindig, gleich von Verhandlungen sprechen. Natürlich könne ein runder Tisch nicht an einem Tag eine Lösung bringen, aber er könne einen neuen Dialog eröffnen und vielleicht auch Blockaden lösen. In diesem Sinne sei auch die russische Seite bereit, sich einen Prozess vorzustellen.

Lernen von andern Autonomielösungen

Im Kern komme es darauf an, dass bei einer Debatte über Autonomie nicht mehr von Modellen im alten sowjetischen Sinne die Rede sein dürfe, sondern von Autonomie in einem demokratischen Kontext, wie sie etwa auf der Insel Åland, in Südtirol, auf den Färöern oder in Grönland praktiziert werde. Es gehe um eine Autonomie, welche die Integrität des Staates mit der Selbständigkeit und dem Selbstbestimmungsrecht eines bestimmten Teiles dieses Staates vereinbare.

Ziel für eine Verständigung müsse es auch sein, dass ein Autonomie-Arrangement immer nur als eine Vereinbarung auf Zeit geschlossen werde. Mit der Option, sie weiter verbessern zu können. Stets müsse sie der Fragestellung unterliegen, was aus anderen Autonomielösungen für die Überwindung gegenwärtiger Krisen zu lernen ist. Auf die Realität in Tschetschenien übertragen, meint Gross, gibt es keine Alternative zu diesem Dialog mit Russland. Und wenn eine derartige Lösung erreicht werden könne, die dann noch gut funktioniere, dann könne vielleicht in zehn oder zwölf Jahren nach einem noch besseren Modell gesucht werden.

Kleine Schritte

Dieses evolutive Verständnis sei aber offenbar von einigen NGO noch nicht verinnerlicht worden. Aber bei oppositionellen Tschetschenen bestehe eine moralisch-politische Unterstützung für den Versuch des runden Tisches. Da andererseits Tschetschenien derjenige Teil von Europa sei, in dem am meisten Gewalt herrsche, in dem am meisten Verachtung gegenüber den europäischen Werten, besonders gegenüber den Menschenrechten, zu beobachten sei, könne mit dem Versuch nichts verloren werden, aber alle könnten davon profitieren. Nur ganz kleine Schritte könnten aus dieser unglaublich schwierigen Situation herausführen.

Mail an Andreas Gross



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