2. Dez. 2004

St. Galler Tagblatt
Rubrik "Zu Gast"

Berichterstatter unbeschreiblichen Elends


Andreas Gross: Sucht nach Lösungen
für den Tschetschenien-Konflikt.
Bild: Ralph Ribi

Von Marius Hasenböhler

Es ist kein Festvortrag, den der Zürcher SP-Nationalrat Andreas Gross an diesem Abend an der HSG hält. Auch wenn es um ein Jubiläum geht: Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention vor 30 Jahren. Gross spricht als Berichterstatter des Europarates über ein düsteres Kapitel der russischen Geschichte und Gegenwart: über Tschetschenien.

Angst ums eigene Leben

Sachlich und analysierend schildert er die Ursachen eines Konfliktes, der bis ins 16. Jahrhundert reicht. Es ist die Geschichte eines Krieges, der 1994 100'000 Tote gefordert hat und 1999 250'000 Tschetschenen zu Flüchtlingen machte; dies bei einer Gesamtbevölkerung von etwas mehr als einer Million Menschen. Bei aller scheinbar distanzierter Betrachtung sind die Emotionen des 52-Jährigen spürbar: Betroffenheit über ein Land, in dem die Menschenrechte mit Füssen getreten würden, dessen Hauptstadt - das einst blühende Grosny - eine Ruinenstadt sei: «Das Elend dort ist unbeschreiblich.» Durch den jahrelangen Krieg und Terror werde aber nicht nur die tschetschenische Gesellschaft, sondern auch die russische geschädigt, sagt Gross. Seit 1994 hätten rund eine halbe Million russischer Soldaten, «Greuelorgien» in Tschetschenien ausgeführt und miterlebt. Dies falle auch auf die russische Gesellschaft zurück, die kaum Resozialisierungshilfe für die vielen traumatisierten Soldaten anbiete. «Man hat mir ja 20 Jahre lang gesagt, ich solle nach Moskau predigen gehen, jetzt tue ich das», sagt der ehemalige GSoA-Aktivist auf die Frage, warum er diese Aufgabe überhaupt auf sich nehme. Natürlich sei es nicht einfach, in einem Land tätig zu sein, wo man Angst ums eigene Leben haben müsse, ständig von Militär begleitet und beobachtet werde und doch den Kontakt zur Bevölkerung, zu kritischen Stimmen suchen müsse. «Wenn man nicht selber hilft, wer macht es dann?», lautet seine Gegenfrage.

Meienberg und Furgler

Und wo findet der Mann mit den grau melierten langen Haaren, dem Bart und den wachen Augen unter der randlosen Brille mal Ruhe? «Bei meiner Partnerin, die in Südkorea lebt, oder auf dem kleinen Boot, mit dem ich die norwegischen Inseln erkunde.» Kosmopolitisch geprägt zu sein, scheint Gross schon aufgrund seiner Kindheit, wuchs er doch im japanischen Kobe auf. «In rechte Bahnen» wurde er dann wieder mit acht gelenkt, als er in die Schweiz kam: Beim Grossvater habe er gelernt, den Rasen zu mähen, das Auto zu waschen und über Politik und Fussball zu diskutieren, sagt er mit einem Augenzwinkern. Sein Bezug zu St. Gallen? Für einen Lehrauftrag an der HSG habe es noch nicht gereicht. Dann halte er den Meienberg für einen der grössten Schweizer Schriftsteller. Und Kurt Furgler sei einer der besten Bundesräte gewesen, sagt Gross, bevor er zum Essen der geladenen Gäste eilt.

Andreas Gross



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