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7. Okt. 2004
CoE-Protokoll
30. Sitzungs-
periode 2004
Zum Schlussvotum
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Wenn Moskau Tschetschenien als Teil Russlands sehen will, dann müssen die Tschetschenen sich in Russland zuhause fühlen können
Andreas GROSS, Schweiz, SOC
Danke, Herr Vorsitzender.
Meine Damen und Herren,
Es ist unmöglich, dem Thema Tschetschenien in acht Minuten gerecht zu werden; andererseits bin ich froh, dass wir nach anderthalb Jahren endlich wieder über Tschetschenien reden.
Es ist einer der dunkelsten Orte in Europa, und zwar nicht nur deshalb, weil dort im Vergleich zum restlichen Europa wahrscheinlich mehr Waffen pro Quadratmeter existieren, sondern weil dort die Zahl der Menschen, die unter dem Gebrauch dieser Waffen leiden, am höchsten ist. Menschen sterben, werden verwundet und verletzt, sie sind psychisch und physisch am Ende, und sie haben von allem, was mit Waffen und Gewalt zu tun hat, genug.
Das Schlimmste aber an diesem dunkelsten Ort in Europa ist, dass soviel ungesühntes Unrecht geschieht. Seit über zehn Jahren passiert allen Menschen irgendein Unrecht - jeder ist irgendwie davon betroffen -, das ungesühnt bleibt.
Es gibt Zehntausende von Menschen, die ihre Angehörigen verloren haben - den Vater, den Sohn, den Bruder, die Schwester, den Onkel. Sie wissen nicht, wo ihre Angehörigen sind, was mit ihnen passiert ist, und dieses Nichtwissen ist eine der Hauptursachen für die Unmöglichkeit, eine Versöhnung anzubahnen. Versöhnung ist ein umfangreicher, sehr anstrengender Prozess, und das Schlimmste an der Gewalt ist, dass sie nie vergessen wird, sondern immer neue Gewalt geriert. Aber der Ausweg der Versöhnung muss mit dem Wissen über das Schicksal der vermissten Menschen beginnen, mit dem Wissen, wer verantwortlich ist und mit der Bestrafung der Verantwortlichen.
Ein weiteres Thema sind Arbeitsplätze; 80 Prozent der Bevölkerung ist arbeitslos. Ausserdem müssen die Ruinen verschwinden - Grosny ist eine Geisterstadt. Man sollte wie in Berlin die Trümmer aufhäufen; wer heute Berlin besucht, sieht nicht mehr, dass hier einst ein Trümmerhaufen war. Es ist in psychologischer Hinsicht wichtig, um neu anfangen zu können.
Doch das Allerschwierigste ist, sozusagen "die Herzen zu rekonstruieren", denn Vertrauen neu zu schaffen ist ungleich schwieriger, als die Gebäude wieder instand zu setzen oder die Ruinen wegzuräumen.
Aber nicht nur die tschetschenische Bevölkerung leidet unermesslich - auch für die russischen Soldaten ist es eine Qual. Jedes Jahr werden neue Zehntausende von Achtzehnjährigen nach Tschetschenien geschickt - das ist eine Sozialisation der Gewalt, von der sie sich nie wieder erholen.
Nicht nur der Gewalt, sondern auch der Willkür, der Möglichkeit, mit Geld alles machen zu können, ist eine unglaubliche Belastung für die russische Gesellschaft, die das nicht länger hinnehmen wird. Die russische Gesellschaft leidet genauso unter dem tschetschenischen Trauma, unter der tschetschenischen Realität wie die tschetschenische Gesellschaft selbst.
Jetzt ist es einfach, von einer Katastrophe zu sprechen und festzulegen, wer Schuld hat - es gibt keinen Unschuldigen. Es ist einfach zu sagen: "Wir können nichts tun, es ist schlimm, es ist eine Katastrophe". In meinem Bericht versuche ich, trotz allem sozusagen ein Licht im Dunkeln zu finden, obwohl dies sehr schwierig ist, obwohl der Zeitpunkt, zu dem wir dies versuchen, sehr kompliziert ist, denn - wie gesagt - Gewalt scheint immer neue Gewalt zu schaffen. Aber wir müssen diese Schwarzweissmalerei überwinden. Es gibt auf beiden Seiten - beziehungsweise auf jeder Seite, denn es gibt mehr als nur zwei Seiten in dieser Auseinandersetzung, in diesem Krieg - Menschen, denen klar ist, dass es so nicht weitergehen kann, und dass der Ausweg nur über vertrauensbildende erste Gespräche mit dem Andersdenkenden möglich ist. Den Feind, mit dem man Frieden schliessen muss, kann man sich nicht aussuchen. Man muss den Feind so nehmen, wie er ist, das hat schon Rabin gesagt.
Auf beiden Seiten gibt es Menschen, die das wissen, und unsere Aufgabe ist es, mit den Menschen beider Seiten diese Prozesse einzuleiten - es gibt keine Alternative dazu. Es gibt keine Alternative zu diesem Dialog, der auf einem minimalen Respekt und der Achtung vor dem anderen beruht. Den Freund zu achten ist einfach, doch denjenigen zu respektieren und zu achten, der eine andere Position vertritt, das ist die grosse Aufgabe, um die wir nicht herumkommen. Diese Erkenntnis müssen wir allen Seiten mitteilen, nicht nur einer einzigen, denn die Verantwortung liegt auf allen Seiten. Selbstverständlich gibt es Grössere und Mächtigere, und es gibt Leute, die mehr Verantwortung tragen. Natürlich verlangen wir von denen mehr, doch dürfen wir nicht glauben, Schuld und Unschuld seien jeweils einseitig verteilt. Es gibt keine Alternative zum Einstieg in diese Gespräche.
Deshalb bin ich sehr froh, dass wir auf einer Konsensbasis mit der russischen Delegation und mit hauptverantwortlichen Tschetschenen, die dem Terror nicht weiter folgen wollen sozusagen unter der Hoheit der Stadt Strassburg, denn in der Delegation war ausser Herrn Iwin´ski und mir auch der Vizebürgermeister von Strassburg als Vertreter des Kongresses dabei, einen runden Tisch einrichten können, an dem sich sehr unterschiedliche Personen aus den verschiedenen Seiten zusammensetzen können. Bedingung dabei ist - und ich finde es richtig, dass wir diese Bedingungen als grundsätzliche minimale Achtung und Respektsbezeugung akzeptieren - dass sie in Zukunft dem Terror abschwören, dass sie also nicht mit der Waffe in der Hand an den Tisch kommen, - denn so kann man nicht diskutieren - und auf der anderen Seite die Integration der russischen Föderation akzeptieren.
Hierzu noch eine sehr wichtige Anmerkung: Bei der heute gültigen Verfassung von Tschetschenien, die unter ungünstigen Bedingungen zustande kam und die wir immer wieder kritisiert haben, gibt es eine Autonomie, die jedoch nicht das ausschöpft, was die Verfassung der russischen Föderation den Gliedstaaten an Autonomie zugesteht. Hier gilt es ein Maximum zu erreichen. Ausserdem wissen wir aus der Diskussion über Autonomie aufgrund erfolgreicher Beispiele in Europa, wie Aland und Südtirol, dass Autonomie in ihrem Kern ein dynamischer, in Richtung Zukunft offener Prozess ist. Man überschätzt leicht die Unabhängigkeit und unterschätzt die Autonomie, und in der Autonomie liegen noch weit mehr Möglichkeiten zur Befriedung, als dies heute wahrscheinlich beiden Seiten, vor allem der tschetschenischen, bewusst ist.
Ich denke, es ist eine grosse Verantwortung, wie wir es auszudrücken pflegen, die Herzen und Gemüter der Menschen wieder zu gewinnen. Wenn Moskau Tschetschenien als Teil Russlands sehen und erreichen will, dass Russland auch für die Tschetschenen Heimat sein soll, dann müssen wir auch alles tun, vor allem auch auf Moskauer Seite, damit die Tschetschenen sich in Russland zuhause fühlen können.
Dies ist jedoch unter den heutigen Umständen nicht möglich; dazu bedarf es der ökonomischen Rekonstruktion, es bedarf einer ökonomischen Lebensperspektive, und es bedarf vor allem der Versöhnung als Voraussetzung dafür, dass sie sich zu Hause fühlen können. Dies wiederum wäre die Voraussetzung dafür, dass ein politischer Prozess eingeleitet werden kann, der zu stabilerem Frieden führt, auch wenn es noch ein langer Prozess sein wird.
Vielen Dank.
Andreas Gross
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