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23. Sept. 2004
Die Russische Schweiz
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«Man darf die analytischen Fähigkeiten der Weltöffentlichkeit und diejenige des eigenen Volkes nicht unterschätzen»
Interview: Alexander Peske
Russische Schweiz: In den letzten Tagen ist es in russischen Medien zum Thema geworden. Wie würden Sie die Geiselnehmer von der Beslaner Schule benennen, Terroristen oder Aufständischen?
Andi Gross: Sie gehören meines Erachtens zu den skrupellosesten Kriminellen, die wir aus der an Skrupellosigkeit nicht armen Geschichte der Kriminalität kennen. Sie sind in erster Linie und lange vor irgend etwas anderem Verbrecher, deren Taten durch nichts zu rechtfertigen oder gar zu entschuldigen sind. Wer so mit Kindern umgeht, verliert jeglichen Respekt für irgendeine Sache. Das alles gilt auch jetzt, da wir wissen, dass Bassajew sich hinter diese unerhörte Tat gestellt hat.
Wo sehen Sie das Versagen der Behörden? Konnte man so eine hohe Zahl der Opfer vermeiden?
Um diese Frage genau beantworten zu können ist es zu früh. Wir müssen die Arbeit der Untersuchungskommissionen abwarten. Die Behörden verfolgten offensichtlich gleichzeitig verschiedene Strategien. Doch auch wenn die entscheidende Explosion , die den Anfang vom Ende ausgelöst haben soll, tatsächlich ohne Zutun von irgendeiner Seite ausgelöst wurde, spricht doch auch einiges dafür, dass die Behörden unterschätzt haben, was Kinderpsychologen aus der ganzen Welt sofort sagten: Wenn so viele Kinder involviert sind, die gedanklich das Unsägliche einer solchen Tat nicht erfassen können, muss es fast zu unkontrollierten Panikreaktionen kommen.
Hätten Herrn Zakajew, Achmadow und Maschadow mehr für die friedliche Lösung der Geiselnahme unternehmen sollen? Jetzt setzt die russische Regierung das Kopfgeld auf Maschadow und Basaejw, was halten Sie von solchen Praktiken?
Der Präsident Nordossetiens, der zusammen mit dem ehemaligen inguschischen Präsidenten für eine friedlichere Lösung des Dramas sich engagierte, hat über Zakajew in London Maschadow für die Vermittlung gewinnen wollen; bevor die beiden sich einschalten konnten, kam es aber zur besagten Explosion und zum Anfangs des äusserst blutigen Endes. Was der eben neu gewählte tschetschenische Präsident wirklich tat, weiss ich nicht, deshalb kann ich dies auch nicht beurteilen.
Dass nachher die russische Regierung auf beide, Bassajew und Maschadow, die seit vier Jahren sehr unterschiedlichen Fraktionen der Separatisten angehören, das gleiche Kopfgeld ansetzen, halte ich für einen grossen Fehler. Er steht in der alte falschen Kontinuität der Gleichsetzung aller die russische Hegemonie in Tschetschenien ablehnender Oppositioneller und deren Ausschluss aus den politischen Prozessen der vergangenen Jahre, was ganz wesentlich zu dieser Katastrophe geführt hat.
Haben die oben erwähnten Herren noch Einfluss auf Ereignisse im Kaukasus?
Selbstverständlich, im guten wie im schlechten. Viele haben Einfluss, die Frage ist wie viel und in welcher Richtung und ob sie Ihr Potential positiv und konstruktiv zu nutzen wissen.
Hätte man auf die Forderungen der Geiselnehmer eingehen sollen und die Truppen aus Tschetschenien abziehen lassen?
Wenn das Haus brennt, kann das Schlimmste nur noch sehr selten verhindert werden. Die grössten fehler passierten vorher, Jahre vorher. Wir haben es mit einer Eskalation der Gewalt in den letzten sechs Monaten zu tun, die eine Reaktion auf Unterlassungen und Fehler während der vergangenen vier Jahre sind. Die Truppen kann man nicht unter dem Eindruck einer kriminellen Tat von einem Tag auf den anderen abziehen. Um das Leben der Kinder zu retten, musste man sich allerdings auf Gespräche mit den kriminellen Geisselnehmern einlassen, wie dies Auschew auch erfolgreich tat. Ihm hätte mehr Zeit gelassen werden sollen - doch vielleicht wollten zu viele vielleicht auch verschiedener Seite genau dies nicht.
Putin sieht keinen direkten Zusammenhang zwischen Ereignissen in Beslan und seiner Tschetschenienpolitik. Und Sie?
Selbstverständlich gibt es einen solchen Zusammenhang. Ich bin auch überzeugt davon, dass Putin darum weiss, auch wenn er dies öffentlich nicht so sagt. Man sollte seine analytischen Fähigkeiten nicht unterschätzen.
Allerdings sollte er auch die analytischen Fähigkeiten der Weltöffentlichkeit und diejenige des eigenen Volkes möglicherweise etwas weniger unterschätzen. Die Welt weiss um die Unterschiede zwischen New York, Madrid und Beslan. Wer diese negiert, verliert sich noch mehr in der Irre.
Wir können eine weitere Eskalation der Gewalt im Kaukasus nur mit einen anderen Politik für und in und um Tschetschenien herum verhindern. Um diese andere Politik zu entwickeln kommen wir um Putin nicht herum. Deshalb muss nicht nur er den Dialog mit den nicht kriminellen Separatisten und Oppositionellen in Tschetschenien suchen, sondern wir auch mit ihm.
Putin zieht Vergleich zwischen Maschadow und Bin-Ladin und verbindet tschetschenischen Rebellen mit Al-Kaeda. Ist es glaubwürdig?
Vergleiche sind immer möglich. Die Frage ist jedoch viel mehr, wer was wie viel mit wem zu tun hat, seit wann und weshalb. Es gibt bestimmt Verbindungen zwischen Bassajew und Bin-Laden und Al-Kaeda. Doch wie viele Verbindungen es zwischen Maschadow und Bassajew gibt, ist schon viel schwieriger zu sagen; ich vermute weniger als Putin behauptet. Sicher ist aber, dass die grosse Mehrheit der tschetschenischen oppositionellen mit den Terroristen von Bassjew bis Bin-Laden nichts zu tun haben wollen. Ebenso sicher ist auch, dass wir die wenigen Verbindungen zwischen den extremistischsten Teilen der Opposition zu den grössten Verbrechern dieser Welt nur kappen können, wenn wir mit den vernünftigen, nicht kriminellen Teil der Opposition das Gespräch suchen und eine Lösung finden. Je eher dies geschieht und klappt, desto schneller hat Tschetschenien mit dem Weltterror nichts mehr zu tun.
Putin will keine öffentliche Untersuchung der Ereignisse, er findet sie kontraproduktiv. Sie etwa?
Mittlerweile hat er bereits eingelenkt und eine Untersuchungskommission eingesetzt. Sollte deren Arbeit nicht befriedigen, wird die russische Öffentlichkeit eine zweite bessere erzwingen, da bin ich mir fast sicher.
Sie sind vor kurzem im Nordkaukasus gewesen, was sind Ihre stärksten Eindrücke?
Ich war übrigens in den letzten Monaten mehr im Südkaukasus als im Norden; doch ich war tatsächlich der einzige Parlamentarier aus Europa, der seit Juni zweimal in Grosny und anderen Regionen der Gegend war. Ich habe die Eindrücke bereits mehrfach beschrieben; Sie können einige davon auf meiner Homepage einsehen. Die Lebensverhältnisse der Menschen sind entsetzlich. Tschetschenien ist die grösste blutende Wunde, die es derzeit in Europa gibt; nirgends gibt es derzeit soviel Gewalt, so viel Gewaltsamkeit und gewalttätige Gruppen und Menschen und entsprechend unermesslich ist das Leid, die Angst und die Unsicherheit. Die meisten haben mehr als genug von dem, von wo es auch immer kommt. Doch wir werden viel Zeit und Anstrengungen gebrauchen, um aus dieser Gewaltsamkeit hinauszufinden.
Sind die Wahlen des Alu Alchanow demokratisch und korrekt, wenn die 80'000 russischen Militärs, die in Tschetschenien stationiert sind, mitwählen durften?
Nicht nur deswegen hatten diese Wahlen wenig mit Demokratie zu tun. Die Legitimität, welche die produzierten, ist gering. Es fand zum Beispiel wegen der fehlenden Bewegungs- und Meinungsäusserungsfreiheit in Grosny keine einzige öffentliche Wahlveranstaltung statt. Da kann man wirklich nicht von echten Wahlen sprechen.
In der Sendung Rundschau vom Mittwoch dem 8. September haben Sie von einer europäischen Paket-Lösung gesprochen, können Sie sie genauer umschreiben. Wer soll sich engagieren und was den Russen und Tschetschenen anbieten?
Mit einer Paket-Lösung habe ich vor allem zwei Dinge gemeint: Die Schweiz kann nicht alleine helfen, das übersteigt um ein Mehrfaches unsere Möglichkeiten. Und wenn wir die russische Regierung und die tschetschenische Regierung fragen, was sie sich unter Hilfe vorstellen, werden sie wahrscheinlich viele verschiedene Dinge nennen: Von Geld bis zu Know-How, von Baustoffen bis zu Technikern und Friedensarbeitern und Psychologen und vieles andere mehr.
Welche Zukunft sehen Sie für Tschetschenien: innerhalb Russland oder ganz unabhängig?
Ich habe in den vergangenen fünf Jahren erfolgreich einen grossen Bericht über erfolgreiche Autonomien im Europa des 20. Jahrhundert erarbeitet und was wir davon für die Lösung jetziger Krisen und Kriege lernen können. Das war wohl auch einer der Gründe, weshalb ich vor mehr als einem Jahr zum Berichterstatter für Tschetschenien gewählt worden bin. Von diesen erfolgreichen Autonomien kann man lernen, dass ihre Arrangements immer offen und dynamisch sind, ein ständiger Prozess. Man sucht erst Lösungen innerhalb eines Staates, welche dessen Interesse an Einheit mit der gesellschaftlichen Vielfalt und den gesellschaftlichen Differenzen verknüpft. Deshalb gibt es kurz- und mittelfristig keine Alternative zur Respektierung der Integrität der Grenzen der Russischen Föderation. Das sehen übrigens prominente Oppositionelle in Tschetschenien genau so. Das heisst nicht, dass man in 15 oder 20 Jahren in den ordentlichen und regelmässigen Verhandlungen über Neuerungen in der Regelung der Autonomie nicht auch wieder auf die Unabhängigkeit zu sprechen kommen kann wie dies gegenwärtig beispielsweise in Dänemark bezüglich Grönland oder den Färöer-Inseln geschieht.
Russland selber - wo sehen Sie das Land und Einwohner in 20 Jahren. Wird es eher in der Richtung Demokratie oder Autokratie entwickeln?
Parlamentarier sind keine Propheten. Ich wünschte mir und arbeite dafür, dass Russland den Übergang zu einer Demokratie in den kommenden 50 Jahren wirklich schafft. Zu einer eigenen Demokratie, gewiss, aber zu einer wirklichen Demokratie. Die letzten zwei Jahrhunderte Russlands waren voll von totalitären und autokratischen Herrschaften. Im 21.Jahrhundert haben auch die Russen mehr Freiheit und mehr Demokratie verdient; wir müssen alles tun, damit ihnen dies möglich wird, nicht zuletzt auch im Interesse unserer eigenen Demokratie, die nicht gut sein kann, wenn diejenige in Russland schlecht ist oder gar nicht existiert.
Mit welchen russischen Politikern verstehen Sie sich am Besten? Mit wem arbeiten Sie evt. zusammen?
Ich möchte im Interesse der Sache keine Namen nennen. Ich arbeite mit vielen zusammen, die sich eigenständig Gedanken machen, die kritisch und selbstkritisch denken und die zu Dialog und Diskussion bereit sind. Solche Menschen gibt es überall und auf allen Seiten. Deshalb gibt es auch Gründe für Zuversicht; es ist viel mehr Gutes möglich, auch in Tschetschenien im besonderen und in Russland im allgemeinen. Wir müssen nur wissen, wie die genannten Typen von Menschen rechtzeitig zusammenfinden können.
Andreas Gross
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