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20. Sept. 2004
SP-Pressedienst
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Auswege aus der Gewaltsamkeit in Tschetschenien
Alleine kann die Schweiz wenig ausrichten
Von Andi Gross
Der (Aus-)Weg wird steinig und mühsam und voller Behinderungen sein. Doch seine Richtung und seine Beschaffenheit scheinen vielen klar, selbst in Russland selber, wenn auch nicht unbedingt bei jenen im Kreml, die in Russland das Sagen haben. Und dies hat wiederum mit den in Russland fehlenden Erfahrungen und Lernprozessen zu tun, welche Demokratien im 20. Jahrhundert möglich gewesen waren.
Gewalt ereignet sich nicht einfach so und ohne weiteres. So grausam sie ist, sie hat immer ihre Geschichte. Und vor allem ihre Folgen: Wer politisch nicht umstellt, wird Gewalt mit immer noch mehr Gewalt beantworten. Denn das schlimmste an der Gewalt ist, dass sie kaum vergessen werden kann. So gross ist das Leid, das meist mit ihr angerichtet wird.
Die russische Führung beschloss spätestens nach dem Terroranschlag auf das Moskauer Ost-West-Theater vor zwei Jahren, in Tschetschenien eine Lösung ohne die oppositionellen Tschetschenen zu suchen. Man setzte mit viel militärischer und polizeilicher Gewalt eine Verfassung und Präsidenten durch, ohne die mit Verfassungen und Wahlen normalerweise einhergehenden Auseinandersetzungen und Verständigungen mit Andersdenkenden auf sich zu nehmen.
Das Ergebnis: All jene, die mit der Strategie Moskaus in Tschetschenien nicht einverstanden waren, fühlten sich ausgeschlossen. Sie wurden nicht mehr gehört und fühlten sich an die Wand gedrängt. Die Folge: Ihr kriminellster Flügel gewann die Oberhand und drehte seinerseits an der Gewaltspirale. Der Terror eskalierte. In den vergangenen Jahren sind in Tschetschenien mehr als 500 oppositionelle Tschetschenen spurlos verschwunden. In den letzten sechs Monaten starben über 500 Russen nach Terroranschlägen vor Metrostationen, in Flugzeugen und in der Schule von Beslan.
Sowohl der internationale Terror als auch der fundamentalistische, gewaltbereite Islamismus spielen heute in Tschetschenien eine Rolle. Jedoch nicht als Ursache, sondern in der Folge der genannten einseitigen Politik des Kremls. Und nicht im entscheidenden Ausmass: Entscheidend ist das Hausgemachte. Die Mehrheit der Opposition hat mit dem Fundamentalismus und dem Terror nichts am Hut. Mit ihnen lässt sich eine Verständigung suchen.
Das heisst: Es gibt keine Alternative zum Dialog mit denjenigen, die keine kriminellen Methoden im Hinterkopf pflegen. Ebenso wenig gibt es vorerst eine Alternative zur Respektierung der Grenzen der Russischen Föderation. Die Russen fühlen sich durch die weltpolitischen Verschiebungen der letzten 15 Jahren enorm erniedrigt. Deshalb müssen wir eine echte Autonomie für Tschetschenien suchen im Rahmen der Verfassung der Russischen Föderation.
Dies ist möglich und sinnvoll. Auch Tatarstan hat beispielweise eine weitgehende Autonomie. Und die erfolgreichen Beispiele der Autonomien im 20. Jahrhundert zeigen, dass sie erfolgreich sind, weil ihre Modalitäten immer wieder neu ausgehandelt werden können. Das heisst, in 15 bis 20 Jahren kann man wieder auf Unabhängigkeitsideen zurückkommen, sofern diese dann immer noch überschätzt und die Autonomie unterschätzt wird wie gegenwärtig.
Diese Perspektiven sind für einige Russen und vor allem russische Machthaber ungewohnt. Sie sind die Ergebnisse schmerzvoller Lernprozesse, die in freien Gesellschaften während des 20. Jahrhunderts möglich waren. In totalitären Strukturen lernen viele zu wenig, vor allem jene, die an der Macht sind. Deshalb ist es sinnvoll, auf ganz verschiedenen Ebenen (Parlamenten, Regierungen, Zivilgesellschaft, Wissenschafter, Intellektuelle, Kulturschaffende ...) entsprechende Diskussionen an Runden Tischen mit verschiedenen Beteiligten unterschiedlichster Perspektive anzustossen und aufzubauen.
Je mehr dies geschieht, umso eher kann das Vertrauen entstehen, das notwendig ist, um die beschriebenen Wege einzuschlagen. Wenn die Schweiz dazu einen Beitrag leisten kann, hat sie schon viel getan. Mehr und vor allem schneller finden sich kaum Auswege. Was Jahrzehnte, ja Jahrhunderte lang falsch lief, lässt sich nicht einfach zack zack, von heute auf morgen ändern. Die Kunst ist, der Zeit so viel Zeit zu lassen, wie sie braucht - und dennoch keine Zeit zu verlieren, in der noch mehr Gewalt zur Anwendung kommen würde.
Andreas Gross
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