10. Sept. 2004

St.Galler Tagblatt

Eine persönliche Überlegung zum Krieg in Tschetschenien
Das Unmögliche denken,
um das Mögliche zu verwirklichen


Von Andreas Gross
(52), Politikwissenschafter, Zürcher SP-Nationalrat und Europarat. Als solcher ist er Berichterstatter zur politischen Situation in Tschetschenien und der einzige europäische Parlamentarier, der sich in den vergangenen drei Monaten dort zweimal mehrere Tage aufhielt.


Wir leben in einer Zeit, in der die Wirtschaft und ihre Mentalität unser Handeln und Denken ganz allgemein bestimmt. Für die Politik ist dies fatal. Denn die Politik und die Wirtschaft sind zwei Systeme, die zwar einiges gemeinsam haben, in denen es aber auch zahlreiche Unterschiede gibt, die zu verkennen verhängnisvoll ist.

Beispiele gibt es mehr als genug: In unserer Wirtschaftswelt können Sie alleine mit etwas Glück sehr reich werden. Politisch können Sie alleine nur verzweifeln. In der Politik müssen Sie sich mit ähnlich gesinnten Menschen zusammentun und gemeinsam eine Handlungsmacht entwickeln, die erst gesellschaftliche Reformen auslösen kann.

Oder: Bevor Sie irgendwo Geld investieren tun Sie gut daran, sich über ihre Erfolgsaussichten zu orientieren und die Entscheidungen von den entsprechenden Erwartungen abhängig zu machen. In der Politik kommt ein solches Denken immer zu spät. Hier müssen Sie vielmehr die Umstände, beteiligten Interessen und die Geschichte eines Problems sorgfältig evaluieren, diskutieren und die ihnen angemessen erscheinenden Auswege und Lösungsmöglichkeiten auch dann denken, ausdrücken und mit anderen erörtern, ohne deren Realisierung gewiss zu sein. Würden Sie ersteres erst dann tun, wenn letzteres sicher ist, dann wäre ersteres gar nicht mehr nötig.

Doch fragen Sie einmal herum, weshalb so wenige sich auch politisch engagieren, damit sich etwas ändert, wo doch so viele überzeugt davon sind, dass sich einiges ändern müsste und erst noch genau zu wissen glauben, wie man es tun müsste. Drei von fünf werden Ihnen sagen, es lohne sich ja doch nicht. Sie wollen also sicher sein, dass es sich lohnt, bevor sie was tun. Mit dieser Einstellung werden sie allerdings ewig warten - und nichts wird sich zum Besseren ändern. Ausser: Andere tun es besser.

Was dies mit dem Krieg, der unsäglichen Gewalt und dem unermesslichen Leid in Tschetschenien zu tun hat, der grössten politischen Wunde, die Europa derzeit wohl kennt? Sehr viel, wie mich die vergangene Woche in der Schweiz wieder gelehrt hat.

Zwar ist bekannt, dass das schlimmste an der Gewalt die Tatsache ist, dass sie immer noch mehr Gewalt geriert, weil die besonnenen Menschen auf beiden Seiten der Barrikaden von jenen niedergeschrieen werden, die glauben, die Gewalt der anderen rechtfertige eine noch grausamere Anwendung der eigenen gewaltsamen Mittel. Ebenso sind wir uns der Konsequenz dessen bewusst, was der Russland-Kenner Christoph Neidhart als «Verspätung der russischen Nation» genannt hat, wozu auch die Unkenntnis der Prinzipien der Aufklärung und der Erkenntnisse der teilweise sehr schmerzhaften Lernprozesse gehören, welche uns die zivilisatorischen Fort- und Rückschritte der vergangenen 250 Jahre ermöglicht haben. Wir wissen auch, dass wenn die Emotionen überborden, der Verstand es schwer hat, mitzukommen.

Trotzdem: Völker lassen sich nicht ewig unterdrücken, wie mir der kürzlich verstorbene St. Galler Professor Ota Sik aus Prag vor genau 25 Jahren erläutert hat. Und wem über Jahre hinweg jegliche demokratischen Möglichkeiten, seinem Widerspruch Gehör zu verschaffen, genommen und er statt dessen verfolgt, verhaftet und sogar umgebracht wird, der darf sich nicht wundern, wenn Andere glauben, sich mit grösster Rücksichtslosigkeit Gehör verschaffen zu dürfen. Damit ist nichts zur Rechtfertigung von Terror gesagt. Es wird damit nur auf einen Faktor hingewiesen, weshalb heute auch Terroristen in Tschetschenien agieren. Neidhart: «Tschetschenien ist ein russisches Problem, (bislang) keins des Islam» (Weltwoche vom 8.9.04).

Deshalb gibt es keine Alternative als den Dialog mit all den Tschetschenen, die der Gewalt ebenso ablehnend gegenüberstehen wie der russischen Fremdbestimmung. Ohne Dialog mit ihnen kann kein Vertrauen zwischen den Völkern wieder aufgebaut werden; ohne Vertrauen gibt es keinen Frieden und entsprechende Verständigungen.

Es gibt nichts, was diese Thesen widerlegt. Deshalb müssen sie vertieft, konkretisiert und umgesetzt werden.

Das heisst freilich noch nicht, dass entsprechenden Anstrengungen sicherer Erfolg beschieden sein wird, beziehungsweise "ich an den Erfolg glaube", wie die Basler Zeitung in einer Art Pinzetten-Journalismus im Geiste der eingangs erläuterten Missverständnisse raisonnierte. Doch das Denken und das öffentliche Ausdrücken dieser Erkenntnisse und ihre anschliessende Diskussion mit möglichst vielen verschiedenen Beteiligten ist die Voraussetzung dafür, dass deren Erfolg möglich werden könnte. Ohne dass das Unmögliche gedacht wird, kann das Mögliche nicht realisiert werden. Mit Glauben hat dies wenig zu tun, aber mit dem Wissen um die methodischen Unterschiede in den beiden wichtigsten unsere Existenz prägenden Ordnungssysteme.

Andreas Gross



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