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9. Sept. 2004
Aargauer Zeitung
AZ-Tribüne
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Gewalt passiert nicht einfach so
Von Andreas Gross,
52, Politikwissenschafter, Zürcher SP-National- und Europarat, Lehrbeauftragter und Leiter des Ateliers für Direkte Demokratie in St.Ursanne/JU
Der Schock sitzt tief. Die besetzte Schule im nordossetischen Beslan wird in unserem kollektiven Unterbewusstsein einen Platz finden wie die Zwillingstürme New Yorks. War es damals die einfach unglaubliche Dimension der terroristischen Gewalt, welche uns umtrieb, ist es diesmal das Schicksal der Hunderten von Kindern, das uns ins Herz trifft. Denn es gibt keine Unschuldigeren an der Welt auf dieser Welt als die Kinder. Und dennoch müssen sie immer wieder ausbaden, was wir Erwachsene an Elend und Unrecht angerichtet haben.
Dass sie nicht einmal mehr vor der Instrumentalisierung und der Opferung von Kindern zurückschrecken ist ein bisher unerreichtes Ausmass an Brutalität und Grausamkeit des Terrors selbst für kaukasische Verhältnisse. Die Reaktionen waren entsprechend. Das sind ja keine Menschen mehr, die Kindern so was antun können, sagten viele. Ein Russe schrieb mir, das seien nur noch Bestien, keine Menschen mehr, Tiere würden einander so was nie antun. Und ein russischer Botschafter in einer europäischen Hauptstadt ging noch weiter und meinte, solche Terroristen dürfte man auch nicht mehr als Menschen ansehen und behandeln. So verständlich erstere, spontane Reaktionen normaler betroffener Menschen sind, so inakzeptabel aber auch die letztere Reaktion des Diplomaten. Denn würden wir ihr folgen, würden wir genau das gleiche tun wie die Terroristen: Menschen willkürlich nicht mehr als Menschen behandeln, das heisst ihnen ihre Würde und Menschenrechte absprechen.
Der Versuch, zu erklären und zu ergründen, heisst nie entschuldigen. Etwas Schreckliches verstehen darf nicht als Verständnis fürs Falsche missverstanden werden. Dies gilt es gerade in solchen Momenten und angesichts mancherlei oberflächlicher öffentlichen Diskurse zu betonen. Denn trotz dem Schock müssen wir uns zumindest nach einigen Tagen auch fragen, wie es dazu kommen konnte. Denn jede Gewalt, auch die allerschlimmste und unmenschlichste, gerade die, passiert nicht einfach so, fällt nicht einfach so aus dem Himmel auf die Erde. Zwar hat es eine so grässliche Tat wie die in der Schule von Beslan sogar in der grausigen Geschichte des Terrors noch nie gegeben - und dennoch hat auch diese Tat ihre Geschichte, ihre Genese, über die nachdenken und die ergründen muss, wer weitere ähnliche Grausamkeiten verhindern möchte.
Der Krieg im Kaukasus, die Konflikte um Tschetschenien, sind zwar zu komplex und viel zu alt und lang, um in einer Kolumne erschöpfend behandelt werden zu können. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die terroristische Gewalt in den vergangenen fünf Monaten eskaliert ist: Ermordung des tschetschenischen Präsidenten, Anschläge auf Minister, Angriffe auf öffentliche Gebäude in Tschetschenien und Inguschien, Selbstmordattentate in und vor der Moskauer Metro und in zwei russischen Flugzeugen, jetzt die ungeheure Tat von Beslan. Diese Eskalation erfolgte gleichzeitig mit dem Versuch der russischen Regierung, die Lage in Tschetschenien zu "normalisieren" und dabei all jene Tschetschenen, die mit der Hegemonie Russlands nicht einverstanden sind, aus dieser "Normalisierung" auszuschliessen.
Das kann nicht gut gehen. Man kann eine Verfassung einem Volk nicht einfach aufdrücken - eine Verfassung ist immer eine Vereinbarung von Bürgerinnen und Bürgern, kein Werk weniger für alle. Wahlen müssen allen Gruppen und Parteien und Kandidaten offen stehen, die ohne Gewalt ihre Meinungen und Interessen vertreten möchten. Schon zweimal haben die von Moskau geprägten Behörden aber alle Kandidaten ausgeschlossen von der Wahl, die ihrem Kandidaten hätten gefährlich werden können. Es gibt seit Monaten und Jahren in Grosny keine Bewegungs- und Versammlungsfreiheit; kritische Bürger, selbst Professoren, haben Angst ihre Meinung auch nur in einem privaten Rahmen, selbst zu Hause, einem Besucher gegenüber zu äussern. Vor der jüngsten Wahl fand in Grosny keine einzige öffentliche Diskussionsveranstaltung statt.
Statt dessen hat die russische Regierung seit Monaten all jene Tschetschenen, die ihre Politik kritisieren, als Terroristen diskreditiert, verfolgt, verhaftet, verschwinden lassen oder militärisch bekämpft. Obwohl diese Opposition sehr vielfältig ist und ihr moderater Flügel sogar europäische Werte verteidigt. Wer aber alle gleich verunglimpft darf sich nicht wundern, wenn die brutalsten Fundamentalisten, die tatsächlich Verbindungen pflegen zu Al-Quaida, die Oberhand gewinnen und die anderen sich kein Gehör mehr verschaffen können.
Das schlimmste an der Gewalt ist, dass sie kaum vergessen wird und immer neue, noch schlimmere Gewalt produziert und zu rechtfertigen scheint. Deshalb haben es jetzt diejenigen schwer, die sich bewusst sind, dass es zum Waffenstillstand und zum Versuch, mit allen, die auf den Gebrauch von Gewalt verzichten wollen, einen Dialog aufzunehmen und einen Kompromiss zu suchen, keine Alternative gibt. Solche gibt es auf allen Seiten, in Moskau wie in Grosny und selbst in den Bergen Tschetscheniens. Ihre Bemühungen müssen wir unterstützen. Jeder und jede immer dann, wenn er mit Russen ins Gespräch kommen kann. Vor allem gilt dies aber für die westeuropäischen Minister und Regierungschefs, die mit einem Wladimir Putin nicht nur über den Ölpreis und die Menge des in Russland geförderten Öls sprechen sollten ...
Andreas Gross
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