8. Juni 2004

dpa Moskau

Die absurde Suche nach
Normalität in Tschetschenien


Mit diesem Bericht entstanden die Fotos, die Sie unter dem Titel «Bilder aus Tschetschenien» im Kapitel "Tschetschenien" finden.

Von Stefan Voss, dpa

Moskau/Grosny/Nasran (dpa) - Die Propeller der Iljuschin-18 dröhnen bereits zum Start, als sich ein russischer Journalist mit ausgeprägter Cognac-Fahne auf den Sitz neben Rudolf Bindig zwängt. Ob er nicht noch schnell der Redaktion in Moskau ein Telefoninterview geben könne, wird der Berichterstatter des Europarates zur Rechts- und Menschenrechtslage in Tschetschenien gefragt. «Leute, zeichnet mal ein Interview auf. Ich sitze hier neben, äh, Lord Bindig», nuschelt der Journalist und reicht das Handy an den Deutschen weiter.

Die kleine mitreisende Delegation feixt über den Versprecher «Lord Bindig». Der SPD-Politiker Bindig, seit 1976 Abgeordneter des Bundestages, gehört im Gegensatz zum Briten Lord Judd keineswegs dem Adelsstand an. Als Berichterstatter des Europarates hatten sich beide, Lord Judd und Bindig, in den vergangenen Jahren den Ruf der unbeliebtesten westlichen Politiker in Russland erworben.

Beim Europaratsmitglied Russland schätzt man es nicht, wenn ausländische Delegierte die offizielle Version Moskaus von Frieden, Fortschritt und Stabilität in Tschetschenien in Zweifel ziehen. Während der 63-jährige Bindig «zum mehr als zehnten Mal» unterwegs nach Tschetschenien ist, hat mittlerweile der Schweizer Sozialist Andreas Gross (51) Lord Judd als Berichterstatter für die politische Situation in Tschetschenien abgelöst.

Das Interview ist beendet, die fast 50 Jahre alte Iljuschin in den Moskauer Morgenhimmel gestartet. Weil im zerbombten Tschetschenien kein ziviler Flughafen funktioniert, nennen die russischen Organisatoren als Ziel Mineralnyje Wody im Nordkaukasus. Nach der Landung heisst es dann aber: «Willkommen in Dagestans Hauptstadt Machatschkala.» Wieso die Flugänderung? «Aus Sicherheitsgründen.»

Die Polit-Elite der Teilrepublik Dagestan erweckt bei der offiziellen Begrüssung auf dem Rollfeld den Eindruck, als habe man sich schon seit Tagen auf den Besuch gefreut. «Wir fühlen uns geehrt, dass der Europarat auch Wert auf einen Besuch in Dagestan legt», sagt der Parlamentsvorsitzende bei einem Imbiss im Flughafen.

Später, auf der Fahrt zu bereit stehenden Hubschraubern, ist im Kreis der Dagestaner dann weniger Freundliches über die Gäste zu hören. «Dieser Bindig ist doch ein ebensolcher Idiot wie Lord Judd. Wir können ihm sagen, was wir wollen. Am Ende ziehen die im Europarat doch wieder alles nur in den Schmutz», raunt der Parlamentsvorsitzende im Flughafen-Minibus einem Vertrauten zu. Dass in der Sitzreihe dahinter ein deutscher Journalist Platz genommen hat, der auch noch Russisch versteht, merkt der Politiker nicht.

Was sie von Lord Judds vollbärtigem Nachfolger Gross halten sollen, wissen die Dagestaner noch nicht so recht. Der Utopienforscher und Vorkämpfer für mehr Basisdemokratie absolviert sein Programm im offenem Hemd ohne Krawatte und Jacket. Das gibt beim steifen russischen Protokoll gleich Minuspunkte.

Mit Bindig und Gross an Bord hebt der Militärhubschrauber vom Typ Mi-8 in Richtung Grosny ab. Der Blick durch die Helikopter-Bullaugen wird behindert durch von innen vor die Fenster geschraubte Maschinengewehr-Halterungen. An der Aussenaufhängung des Helikopters sind Kassetten für Raketen angeschweisst, die übergrossen Trommeln eines Revolvers gleichen.

Obwohl die Kassetten leer sind, macht sich unter den Reisenden an Bord ein mulmiges Gefühl breit. In welcher Mission dieser Hubschrauber wohl an anderen Tagen unterwegs ist? Noch vor kurzem soll eine Mutter mit ihren fünf Kindern in den tschetschenischen Bergen durch Raketenbeschuss aus Hubschraubern getötet worden sein.

Die Route führt im Tiefflug über halb zerstörte Dörfer, in denen manche Häuser aber bereits wieder ein Dach haben. Einige Felder sind bestellt. Es sind vorerst nur kleine Inseln der Hoffnung in einem Meer der Zerstörung und Vernichtung.

Imposanter als die zwei Europaratsvertreter könnte auch ein US-Präsident kaum auf dem zerschossenen Flughafen von Grosny einschweben. Vier Militärhubschrauber donnern in einer Reihe über die Landebahn und setzten dann auf dem Beton auf. Bevor Bindig und Gross aussteigen dürfen, springen aus den anderen Hubschraubern zwei Dutzend Soldaten, um mit ihren Kalaschnikows das Gelände zu sichern.

Liebhaber von Rambo-Filmen hätten ihre Freude an dem Spektakel. Bindig und Gross wirken unangenehm berührt. Auf ihrer Suche nach der proklamierten Normalität sprechen Kampfhubschrauber und Leibwächter eine andere Sprache.

Einen Tag haben die westlichen Parlamentarier Zeit, um sich ein Bild von der Lage in Grosny zu machen. Mehrfach dringen sie darauf, an einem Markt anzuhalten und mit den Menschen über deren Alltag, Sorgen und Wünsche sprechen zu dürfen. «Sie werden dort unten viele glückliche Menschen treffen», hatte bei den Vorgesprächen in Moskau ein Vertrauter von Präsident Wladimir Putin behauptet.

Die Organisatoren vor Ort haben aber kein Interesse an spontanen Begegnungen. Bindig und Gross werden zu renovierten Schulen ohne Kinder in den Klassen und zur wieder aufgebauten Universität ohne Studenten gebracht. «Wir haben Ferien», heisst es entschuldigend.

Bindig spricht kein Russisch. Dennoch hat er von Tschetschenien mehr gesehen als die allermeisten Politiker in Moskau. Die Inszenierungen der russischen Seite sind ihm alt bekannt. «Dieses Mal versucht man besonders intensiv, eine Normalität vorzutäuschen», ärgert sich Bindig in Grosny. Das werde er in seinem Bericht vermerken. Trotz allem ist Bindig vom Sinn der Mission überzeugt: «Wenn wir nicht präsent wären und kontrollierten, würden die Russen noch rücksichtsloser und brutaler gegen Opponenten vorgehen.»

Vergeblich pochen die beiden Ausländer auf ein von russischer Seite zunächst zugesagtes Treffen mit den Menschenrechtlern von «Memorial» in Grosny. Diese Organisation geniesst wegen ihrer akribischen Auflistung von Verbrechen in Tschetschenien international hohes Ansehen. Für den Kreml aber ist «Memorial» ein rotes Tuch.

Es wird getrickst, getäuscht und gelogen, damit das Treffen nicht zu Stande kommt. Von «Das Büro ist geschlossen» über «Wir kennen die Adresse nicht» bis hin zu «"Memorial" arbeitet im Untergrund» reichen die Ausreden. Hinter dem Rücken der Ausländer schiesst der russische Chef-Organisator Leonid Sluzki dann den Vogel ab. «"Memorial" ist doch Scheisse. Da lassen wir sie nicht hin», prahlt der Abgeordnete der rechtsextremen LDPR vor dem Oberkommandeur der Polizeitruppen im Nordkaukasus. «Wir zeigen ihnen einfach irgendwas anderes.»

Bindig und Gross hatten Vorsorge getroffen und Vertreter von «Memorial» sowie anderen Organisationen bereits in Moskau getroffen. Deren Berichte waren erschütternd: Allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres seien mindestens 117 Menschen in Tschetschenien ermordet und 177 entführt worden. Die allermeisten Verbrechen verübten russische Soldaten oder die tschetschenische Leibgarde des im Mai bei einem Bombenattentat getöteten Präsidenten Achmat Kadyrow, berichteten die Menschenrechtler. Es herrsche ein Klima der Angst, weil die maskierten Täter immer schwerer zu identifizieren seien.

In Grosny selbst ist bei kurzen Gesprächen mit Passanten abseits der Delegation dagegen nur selten von Angst und Gewalt die Rede. «Ich bin froh, endlich wieder daheim zu sein und ein Dach über dem Kopf zu haben», erzählt eine Frau in einer Hüttensiedlung für heimgekehrte Flüchtlinge in Grosny. Ihr eigenes Haus hatte die Frau im Bombenhagel russischer Kampfjets Anfang 2000 verloren.

Was die Frau über ihr Leben in Grosny berichtet, ist auch bei anderen Randbegegnungen in der Stadt zu hören. Zwar habe niemand in der Familie Arbeit, und auch die versprochenen Entschädigungszahlungen für zerstörte Häuser liessen noch immer auf sich warten. Doch immerhin sei es nach zehn Jahren Krieg und Terror insgesamt friedlicher geworden, berichtet die Frau.

Noch nicht einmal solche offenbar ehrlichen Antworten, die die Position des Kremls durchaus stützen könnten, werden bis zu Bindig und Gross vorgelassen. Beide müssen zur gleichen Zeit ein paar Schritte weiter zuhören, wie der tschetschenische Finanzminister Eli Issajew Luftschlösser von «Hochhäusern, Verwaltungsgebäuden und einem eigenen Bankenviertel in Grosny» baut.

Die Ausländer beeindruckt das wenig. Ein Blick in die Umgebung genügt. Selbst vier Jahre nach dem letzten Bombardement liegen fast überall noch die Gebäudetrümmer verstreut. Manche Verwaltungsgebäude wurden renoviert. Wieder aufgebaute Wohnhäuser sind fast gar nicht zu sehen. Den Menschen in Grosny fehlt nach zwei Kriegen das Geld und die Zuversicht, einen dritten Neuanfang zu wagen. Immerhin sind viele der verhassten Kontroll-Bunker von Grosnys Strassen verschwunden.

Im streng bewachten Regierungssitz erhalten Bindig und Gross eine Lehrstunde über die nahe Zukunft Tschetscheniens. Im nächsten Jahr würden 100'000 neue Arbeitsplätze und zwei Millionen Quadratmeter Wohnraum «auf europäischem Niveau» geschaffen, kündigt der jungenhafte Sergej Abramow (32) an, der sich nach Kadyrows Ermordung über Nacht im Amt des Übergangspräsidenten wiederfand. Der Utopienforscher Gross schreibt eifrig mit.

Als Bindig in einer Frage von «Rebellen» spricht, braust Innenminister Alu Alchanow auf. Die Männer in den Bergen seien nichts anderes als Terroristen und gemeine Banditen, poltert er. Der Zorn des Innenministers verraucht wieder. Die Pistole, die Alchanow selbst beim Gespräch mit den Europarats-Delegierten trägt, bleibt im Halfter. Der Tschetschene gilt als Favorit des Kremls für die Präsidentenwahl in der Teilrepublik am 29. August.

Ohne das «Memorial»-Büro in Grosny besucht und spontan mit Bürgern gesprochen zu haben, fliegt die Delegation nach eineinhalb Tagen Tschetschenien weiter in das angrenzende Inguschetien. «Wenn sie uns dort wieder ein Treffen mit "Memorial" verweigern, machen wir einen Sitzstreik», drohen die Parlamentarier nur halb im Scherz. Mit Blaulicht und Martinshorn geht es zunächst zu einem der letzten Lager für tschetschenische Flüchtlinge. Bindig, Gross und der Sekretär Günther Schirmer sitzen in einem gepanzerten Minibus.

Auf der Kolonnenfahrt zum Zeltlager Sazita drängen drei nebeneinander fahrende Polizei-Ladas alle entgegenkommenden Autos in Richtung Strassengraben. Ein Kleinwagen gerät ins Schleudern und landet im Schotterbett. Schockiert blicken die drei Wageninsassen, offenbar eine Familie, auf die mit Tempo 100 vorbeirasende Kolonne.

Jenseits der tschetschenischen Grenze kommen die Berichterstatter des Europarats in Kontakt mit Flüchtlingen und dürfen in der Stadt Nasran auch das Büro von «Memorial» besuchen. Dort werden die beiden Politiker von Angehörigen verschwundener tschetschenischer Zivilisten sehnlichst erwartet. «Sie sind unsere letzte Hoffnung, dass unsere Fälle Putin vorgetragen werden», bricht es aus einer Mutter raus.

Mehr als zwei Stunden widmen die beiden Ausländer den Gesprächen bei «Memorial». Andreas Gross spricht ausführlich mit einem älteren Herrn, dessen Sohn vor kurzem spurlos verschwand. Der junge Staatsanwalt hatte Missstände in der inguschetischen Justiz aufgedeckt und veröffentlicht. Daraufhin wurde er von Unbekannten verschleppt.

Später dann, beim Gespräch mit dem Präsidenten der Teilrepublik Inguschetien, Murat Sjasikow, trägt Gross den Fall des verschwundenen Staatsanwaltes vor. «Was haben Sie bislang unternommen, um diesen Fall zu lösen?», fragt der Schweizer Parlamentarier. Sjasikow muss einmal schlucken, bevor er zur Antwort ansetzt. So scharf dürfte der Provinzpräsident von Putins Gnaden bislang nur selten angegangen worden sein. Er habe den Vater des Opfers persönlich empfangen, erwidert Sjasikow.

Mit deutlichen Worten fordert Gross den Präsidenten auf, den Fall des verschwundenen Staatsanwalts aufzuklären, auch um das Vertrauen der gesamten Bevölkerung in die Justiz zu stärken. Der Appell, sich noch einmal mit dem Vater des Vermissten zu treffen, wird Sjasikow noch übermittelt. Die Bemerkung des Schweizers, für ihn sei der verzweifelte Vater eine genau so achtenswerte Person wie der Präsident, verhallt jedoch. Der russische Übersetzer verschweigt den provokanten Vergleich.

Mail an Andreas Gross



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