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13.10.2003
Das Parlament, Berlin
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Interview mit Andreas Gross
Keine Beobachter bei dieser undemokratischen Wahl
Andreas Gross ist Tschetschenien-Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats.
Bei allen Wahlen in den osteuropäischen Reformstaaten wurde bisher der demokratische Verlauf von parlamentarischen Wahlbeobachtern des Europarats überprüft. Zu der Präsidentenwahl am 5. Oktober in Tschetschenien aber beschloss die Parlamentarische Versammlung, keine Beobachter zu schicken, weil weder demokratische Mindestansprüche an eine freie Wahl gewährleist sind, noch aus Sicherheitsgründen die spontane Auswahl der Wahllokale durch die Beobachter. Selbst der Berichterstatter Andreas Gross (Schweiz), der als Einziger Präsenz zeigen wollte, sagte kurzfristig seine Reise ab. Mit ihm sprach zwei Tage vor der Wahl Hartmut Hausmann.
Das Parlament:
Herr Gross, warum die kurzfristige Absage?
Andreas Gross: Vor wenigen Wochen waren wir noch zuversichtlich, dass eine Präsenz von mir sinnvoll sei, weil eine wirkliche Wahl noch möglich schien. Es gab mit einem Duma-Abgeordneten aus Tschetschenien und mit Saidullajew, einem unabhängigen reichen Mann, der viel Positives bewirkt hat, zwei Kandidaten, die an eine echte Wahl und ihre Chancen glaubten.
Das Parlament:
Was hat sich seitdem geändert?
Andreas Gross: Der eine wurde sozusagen gekauft, indem er einen Posten bekam. Er hat sich dann zurückgezogen. Dem anderen, der ein solches Angebot nicht akzeptierte, hat man die Registrierung als Kandidat entzogen. Seine Klage beim Obersten Gerichtshof wurde abgewiesen. Es gibt nur noch einen Kandidaten, den von Putin vordergründig gestützten Kadirow, von dem jeder weiß, dass er ein korrupter Bandit und in Tschetschenien verhasst ist. Er steht heute auf russischer Seite. Ursprünglich war er ein tschetschenischer Kämpfer. Er hat eine Privatarmee, und viel spricht dafür, dass heute mehr Gewalttaten in Tschetschenien von seinen Leuten begangen werden als von der russischen Armee.
Das Parlament:
Also Gewalt ohne Ende?
Andreas Gross: Die verschiedenen Quellen der Gewalt sind eine Tragödie für das Land, weil sie die Chancen für eine Verständigung verbauen. So können die Menschen nicht über Perspektiven diskutieren und über Lösungen, die sie befürworten würden. Wir sind mit einer Wahl konfrontiert, die keine Substanz mehr hat. Hinzu kommt noch, dass Tschetschenien etwa 600'000 Einwohner hat, aber 1,1 Millionen Wähler, weil die russischen Soldaten mitwählen dürfen. In dieser Situation würde die Präsenz auch nur einer Person den Schein erwecken, man könne tatsächlich etwas beobachten, was mit einer Wahl zu tun hat.
Das Parlament:
Könnte die Wahl nicht doch eine beruhigende Wirkung haben?
Andreas Gross: Ich fürchte das Gegenteil. Wenn den Menschen ihre demokratische Stimme genommen wird, fühlen sie sich in die Enge getrieben und veranlasst, die Sprache der Fundamentalisten zu übernehmen, und das ist die Sprache der Gewalt. So ist zu befürchten, dass die Wahl, welche die Gesellschaft eigentlich zivilisieren sollte, den Zyklus der Gewalt eher noch um eine Umdrehung erhöht. Das ist grausam für 80 bis 90 Prozent der Menschen, die genug von der Gewalt haben und sich wie in ein Sandwich zwischen diesen Gewaltquellen gepresst fühlen.
Das Parlament:
Welche Hoffnung gibt es aus Ihrer Sicht nach all den gescheiterten Lösungsversuchen der Vergangenheit überhaupt noch?
Andreas Gross: Wenn wir vom Europarat jetzt nicht die Wahl beobachten, heißt das keinesfalls, dass wir aufgeben. Wir werden nach der Wahl wiederkommen, uns umsehen, den Leuten zuhören und dann neue Vorschläge machen. Auch hoffe ich, dass nach den Parlamentswahlen in Russland im Dezember und der Wiederwahl von Putin im März 2004 der russische Präsident mit gestärkter Legitimität in der Lage ist, mutige Schritte zu unternehmen. Denn nicht vielen von uns ist bewusst, dass in Tschetschenien bereits mehr russische Soldaten gestorben sind als in den 80er-Jahren im Afghanistan-Krieg. Jedes Jahr gehen 50 000 junge russische Soldaten durch die tschetschenische Gewaltmühle. Wenn wir daran denken, als welch seelische Wracks die Vietnam-Soldaten nach Hause kamen, kann man sich vorstellen, wie es denen geht, die in eine viel ärmere Gesellschaft zurückkehren, die ohnehin noch viel gewalttätiger ist als die amerikanische. Deshalb muss deutlich werden, dass die russische Gesellschaft an Tschetschenien kaputt gehen könnte, wenn der Krieg nicht gestoppt wird.
Andreas Gross
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