8. Juni 2004

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Tschetschenien nach der Ermordung
des Präsidenten Kadyrow


Die Fragen stellte Karl-Otto Sattler

Hat die Ermordung des tschetschenischen Präsidenten Achmed Kadyrow die Lage in Tschetschenien weiter verschärft?

Bindig/Gross: Die Ermordung Kadyrows mag viele verunsichert haben. Doch von einem Machtvakuum nach dessen Tod liess sich nur für wenige Stunden sprechen. Kadyrow wollte eine gewisse Eigenständigkeit des tschetschenischen Volks zum Ausdruck bringen, und diese Politik verfolgt auch die neue Equipe an der Spitze des Landes. Die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen besteht weiterhin, sie ist freilich nicht grösser geworden.

Wie sieht die Lage bei den Menschenrechten konkret aus, wie steht es etwa um Mord und Entführung, um die Zerstörung von Häusern, um das Bildungssystem?


Ist das Vorgehen Moskaus in Tschetschenien vereinbar mit den von Russland eingegangenen Verpflichtungen zur Wahrung der Menschenrechts-Charta des Europarats?

Bindig/Gross: Moskau führte Krieg gegen Tschetschenen, missachtete dabei den Grundsatz der Verhältnismässigkeit und verletzte im Innern Prinzipien, die auch bei einer äusseren Bedrohung vom Kriegsvölkerrecht nicht gedeckt wären. Deshalb konnte Russland während des ersten Tschetschenien-Kriegs nicht Mitglied des Europarats werden, und während des zweiten Feldzugs wurde der russischen Delegation das Stimmrecht in der Parlamentarischen Versammlung unseres Staatenbunds entzogen. Heute gibt es aber unter den verantwortlichen Politikern in Moskau Männer und Frauen, die auch in Tschetschenien einen Neuanfang wagen sowie demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien achten wollen. Sie werden dies allerdings nur schaffen, wenn sie bereit sind, den Schicksalen Tausender von Ermordeten und Entführten nachzugehen, die Schuldigen zu bestrafen und so Zehntausende von trauernden Angehörigen wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

Machen die Behinderung der journalistischen Arbeit und die Zensur eine Unterrichtung der Öffentlichkeit über die wahre Situation in Tschetschenien unmöglich?

Bindig/Gross: Informationen über die tatsächliche Lage im Kaukasus sind zwar zu beschaffen, doch oft nur unter grosser Mühe und gegen mächtige Widerstände. Von einer demokratischen öffentlichkeit kann aber in Russland generell nicht die Rede sein, zu stark sind die direkte und indirekte Zensur wie auch der Einfluss staatlicher und oligarchischer Wirtschaftsmacht. Umso wichtiger ist es, dass Abgesandte des Europarats immer wieder die russischen Regionen besuchen und sich aus erster Hand informieren.

Andreas Gross



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