21. Feb. 2016

Die gesellschaftlichen Spannungen
in den USA und in Europa sind sehr ähnlich



Nach den Siegen der favorisierten Donald Trump in South-Carolina bei den Republikanern (10 Prozent Vorsprung) und Hillary Clinton bei den Demokraten in Nevada (5 Prozent Vorsprung) und dem Ausstieg des vor einem Jahr noch als haushoher Favorit geltenden Jeb Bush, sowie den Ergebnissen der aufschlussreichen Nachwahl-Befragungen der Wählerinnen und Wähler beginnen viele die Botschaften zu entschlüs­seln, welche Befindlichkeiten die Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Wahl zum Ausdruck bringen wollen. Diese Subtexte der Vorwahlergebnisse verraten viel über die Spannungen, welche die amerikanische Gesell­schaft derzeit umtreiben.

Dass der New Yorker Milliardär Donald Trump in allen Counties (Bezir­ken) von South Carolina oben auf schwang – und so gemäss den repu­bli­kanischen Regeln alle Delegiertenstimmen aus diesem Staat für sich gewann – und den frommen Texaner Cruz selbst bei den evangelikalen Wählern sowie den Senator aus Florida, Marco Rubio, trotz dessen Un­terstützung durch die beliebtesten regionalen Politiker, den schwar­zen Senator und die Gouverneurin, eine Seconda aus Indien, derart klar auf die Plätze verwies, unterstrich die wichtigste Botschaft aus den Vor­wah­len in den bisher vier Staaten: Viele Amerikanerinnen und Ameri­ka­ner sind sehr verärgert, schwer enttäuscht von ihren etablierten Partei­grös­sen, trauen ihnen wie anderen etablierten Grössen nicht mehr über den Weg und suchen verzweifelt nach Politikern, die deutlich machen, dass und weshalb es ihnen schlecht geht, und die bereit sind, gründlich Remedur zu schaffen.

Hauptgrund dieser tiefen Unzufriedenheit vieler Amerikanerinnen und Amerikaner ist die wirtschaftliche Situation. Der grossen Mehrheit der US-Bevölkerung geht es immer noch schlechter als vor 2008, dem Be­ginn dessen, was hier in Anlehnung an die grosse Depression der 1930er Jahre, die Grosse Rezession genannt wird, der tiefsten Krise der US-Wirtschaft seit 80 Jahren. Damals schrumpfte das US-Brutto­sozialprodukt um 5,1 Prozent, zwischen Februar 2008 und Februar 2010 gingen 8,7 Millionen Arbeitsplätze verloren und die Arbeitslosen­quo­te stieg im Landesdurchschnitt von 4,7 Prozent im November 2007 auf den Spitzenwert von 10 Prozent im Oktober 2009. South-Carolina gehört zudem zu jenen Staaten, in denen die wirtschaftliche Situation jeweils etwa 50 Prozent schlimmer ist als im Landesdurchschnitt und die farbige Mehrheit der Bevölkerung negativer betroffen ist als die Weissen.

Seither hat sich die Wirtschaft zwar wieder erholt. Doch es gibt immer noch drei Millionen Arbeitsplätze weniger im Land als 2008. 8,5 Mil­lio­nen US-Amerikaner sind immer noch ganz lohnarbeitslos. 54 Millionen leben unter der Armutsgrenze. Die Reallöhne der grossen Mehrheit der Beschäftigten stagnieren seit zehn Jahren. Die Löhne für Arbeit bleiben gleich, nur die Kapitalrenditen nehmen zu. Das macht die wenigen ganz Reichen noch reicher. Die grosse Mehrheit der Menschen profitiert viel weniger oder gar nicht vom Aufschwung, die gesellschaftlichen Un­gleich­heiten bezüglich Lebenschancen und Lebensstandard sind ge­rade in der Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs während der vergangenen fünf Jahre grösser geworden.

Deshalb konzentriert sich bei den Demokraten Bernie Sanders, der Senator aus Vermont, auf die Dringlichkeit von grundsätzlichen wirt­schafts­po­li­ti­schen Reformen. Und deshalb kommt er überall, wo er sich Gehör verschaffen kann, so gut an. Selbst in Nevada gewann er die Mehrheit der jungen Demokraten unter 30 Jahren und derjenigen mit einem spanischen Migrationshintergrund. - Hillary Clinton begann ihren Wahlkampf unter den Demokraten Nevadas im vergangenen August mit 22 Vollprofis, die bis zur Jahreswende 1100 Veranstaltungen or­ga­ni­sierten, was ihr damals in den Meinungsumfragen einen Vorsprung von 40 Prozent auf Sanders einbrachte. Sanders erste Profi-Helferin begann in Nevada im Oktober zu arbeiten; heute kann er sich auf 12 Sekretariate im ganzen Staat abstützen, er vermochte hunderte von Helfern zu mobilisieren, die vielen kleinen Spenden aus New Hamp­shi­re ermöglichten ihm in den letzten vier Wochen viel Fernsehwerbung, seine Grundsatzkritik und seine Inspirationen kamen an, Clintons Vor­sprung am Samstag schrumpfte auf fünf Prozent.

Auch der Republikanische Spitzenmann Trump kritisiert vehement die herrschende US-Wirtschaftspolitik. Auch er führt sie teilweise auf den Einfluss von gut organisierten Verbandsinteressen im Kongress zurück, die sich diese mit den Dutzenden von Millionen von Dollar erkaufen, die sie den Kandidaten spenden. Trump verspricht, Millionen von Ar­beits­plätzen zurückzubringen, die wegen Freihandelsverträgen an China, Mexiko und Japan verloren gegangen seien. So sagten 36 Prozent aller republikanischen Wähler, denen die wirtschaftliche Situation das wich­tigste Wahlkriterium ist, sie hätten deshalb Trump gewählt; 45 Prozent jener, die sich eine gründliche Veränderung wünschen und die Mehrheit derjenigen, die sich ausgesprochen ärgern, taten dies ebenso. Auch die Mehrheit der in Fabriken arbeitenden republikanischen Wählerinnen und Wähler South-Carolinas wählten Trump, der sozialpolitisch viel zugänglicher ist als alle seine republikanischen Mitbewerber.

Was dem republikanischen Establishment schwer zu denken muss: Noch nie in der Geschichte hat der republikanische Gewinner der bei­den Vorwahlen in New Hampshire und South Carolina die Nomination zum Präsidentschaftskandidaten nicht gewonnen; da Trump morgen Dienstag auch in Nevada abräumen dürfte, müssen sich einige mit dem Gedanken abfinden, dass es Trump trotz allem schaffen könnte. Nicht einmal der Papst vermochte ihn, beziehungsweise seinen Zustrom, zu verunsichern mit dem Hinweis, dass Christen Brücken und nicht Mau­ern bauen sollten, wie dies Trump an der Grenze zu Mexiko zur Be­käm­pfung der illegalen Immigration zu machen verspricht [und von Mexico bezahlen lassen will, notabene. Anm. des Setzers].

[Anmerkung des Setzers. - Trump profitiert bedeutend von der Choreo­gra­phie der republikanischen Vorwahlen: Seine jetzt noch verblei­ben­den ernstzunehmenden republikanischen Gegenkandidaten bewirt­schaf­ten die gleichen Themen in den gleichen Wählersegmenten; d.h. sie sind sich in ihrer Themenwahl, in ihrem Stil und in ihren Zielen sehr ähnlich und offensichtlich sogar gleich erfolgreich (Rubio 22,5 %, Cruz 22,3 %). Solange Rubio und Cruz jeweils an ihren Kandidaturen fest­halten, wird ihr zusammen klar grösseres republikanisches Wähler­po­ten­tial sich weiterhin durch zwei teilen und so Trump als den lachenden Dritten Bundesstaat um Bundesstaat gewinnen lassen. Für diejenigen Republikaner, die Trump nicht als Präsidentschaftskandidaten antreten lassen wollen, bleibt schon jetzt nur mehr sehr wenig Zeit, die Weichen zu stellen. In einer Woche, nach dem Super-Tuesday, könnte es bereits zu spät sein …]

Liest man nun die einleitende Analyse des französischen Ökonomen Tho­mas Piketty zur gegenwärtigen Situation in Europa in einem eben in der New York Review of Books veröffentlichten «Manifest für einen (eu­ropäischen) New Deal», so werden die Parallelen zur Befindlichkeit vie­ler US-Amerikaner mehr als deutlich: «Die extreme Rechte hat in Frank­reich innert wenigen Jahren eine Zustimmung von 30 Prozent der Wählerinnen und Wähler gefunden. Dies hat verschiedene Ursachen: Die steigende Arbeitslosigkeit mit der damit verbundenen Fremden­feind­lich­keit, eine tiefe Enttäuschung über die Regierungsarbeit der Linken, das Gefühl, alles schon einmal versucht zu haben und dass nun die Zeit für ein Experiment mit etwas ganz Neuem gekommen ist. Das sind die Konsequenzen des katastrophalen Umganges mit dem finanzpolitischen Kollaps, der in den USA 2008 begann, und der auf Grund unserer eigenen Handlungen zu einer andauernden euro­päischen Krise wurde.»


Kontakt mit Andreas Gross



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