19. Sept. 2013

Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ

Die Wahl des Bundestags ist von europäischer Bedeutung – doch die Europäer fühlen sich ausgeschlossen


Von Andreas Gross

Als Präsident Obama zum ersten Mal ins wichtigste demokratische Amt dieser Welt gewählt wurde, hätte ihn die halbe Welt mitwählen wollen. Ein grosses weltweit tätiges US-Umfrageinstitut sprang in die Lücke und stellte die jeweiligen Zustimmungsraten für die zwei US-Präsidentschaftskandidaten in allen 193 Staaten dieser Welt fest. Die meisten Weltbürger waren sich bewusst geworden, wie sehr der US-Präsident die Qualität auch ihre Lebenswelt beeinflusst. Nicht nur wegen militärischer Interventionen, sondern auch bezüglich der Form der Bewältigung der Finanz- und Bankenkrise, der Klimapolitik oder der Weiterentwicklung des Völkerrechts. Entsprechend gross war ihr Interesse. Über eine Milliarde Weltbürger wussten, wer weshalb «ihr» Kandidat für das Amt des Präsidenten der USA gewesen ist. Und die Erleichterung darüber, dass die Mehrheit der US-Bürger jenen wählte, den sich auch mehr als die halbe Welt gewünscht hat, war gross und spürbar.

Den meisten Europäerinnen und Europäern geht es einige Tage vor den Wahlen zum deutschen Bundestag ähnlich. Viele sind sich bewusst, wie sehr der Ausgang dieser Wahl, die Zusammensetzung des deutschen Parlamentes und die Person, welcher das deutsche Bundeskanzleramt besetzt, die Zukunft der Europäischen Union, die europäische Politik und den Alltag von Millionen von Europäerinnen und Europäer massgeblich bestimmen. Je weiter südlich in Europa gewiss umso mehr. Die Europäerinnen und Europäer sind und fühlen sich von den Folgen dieser Wahl betroffen. Doch von der Wahl selber sind sie ausgeschlossen. Sie werden nicht um ihre Meinung gefragt. Nicht einmal ersatzweise von einem transnational tätigen Umfrageinstitut.

Dabei ist einer der Ansprüche jeder moderner Demokratie seit den Zeiten der Französischen Revolution unbestritten: Die Demokratie sollte allen von politischen Entscheidungen Betroffenen ermöglichen, direkt oder indirekt Teil des Prozesses der Entscheidungsfindung zu sein. Denn Demokratie konsumiert sich nicht, sie ermöglicht vielmehr das politische handeln. Die Parlamentswahl und damit indirekt die Einwirkung auf die Zusammensetzung der Regierung ist die rudimentärste ebenso wie die verbreitetste Form, wie dieser demokratische Anspruch realisiert wird.

Doch immer mehr gibt es eine Diskrepanz zwischen jenen, die wählen dürfen und jenen, die von deren Entscheidungen betroffen sind und deren Folgen tragen. Das heisst die Form, in der heute die Demokratie organisiert ist, entspricht nicht mehr den gegenwärtigen Lebensumständen und Ansprüchen. Der Nationalstaat ist nicht länger die adäquate Form der Organisation der Demokratie. Sie sollte längst auch kontinental verfasst worden sein. In Form eines föderalistischen europäischen Bundesstaates. So dass allen Europäerinnen und Europäern ermöglicht wird, auf die sie betreffenden Entscheidungen durch die Wahl des entsprechend zuständig gewordenen neuen Europäischen Parlamentes miteinzuwirken.

Ein altes Projekt übrigens, das nichts gemein hat mit dem berüchtigten Super-Staat. Der Kalte Krieg hat es in den Gründerzeiten verhindert und der EWG eine exekutivgeprägte Vertragsstruktur beschert. Eine Amputation der Demokratie, welche die Regierungen als deren hauptsächlichsten Profiteure nie mehr richtig in Frage stellten. Auch nicht 1991/92 im Zusammenhang mit der Vertragserweiterung von Maastricht, welche zwar den Euro schuf, jedoch immer noch keine demokratisch föderalistisch konzipierte Politische Union einrichtete, obwohl diese angesichts der unterschiedlichen Charakteristiken der im Euro integrierten Volkswirtschaften für dessen gemeinwohlorientierte Funktion notwendig gewesen wäre.

Ein altes Projekt übrigens auch, worüber unter den beiden grossen deutschen Parteien jahrzehntelang Konsens herrschte. Doch davon ist ausgerechnet jetzt, da sich die Integrationskraft der Verträge erschöpft hat, die EU nicht nur mehr Demokratie, sondern die Demokratie auch Europa braucht und Deutschland für den Einstieg in die europäische Demokratie Entscheidendes beitragen könnte, nicht mehr die Rede.

Ist von den unterschiedlichen europäischen Reformperspektiven überhaupt die Rede gewesen in diesem Wahlkampf? Wurde öffentlich gerungen um die grosse Frage, wie die europäischen Krisen im Interesse der grossen Mehrheit der Europäer überwunden werden kann oder kamen bloss deutsche Interessen und Prioritäten zur Sprache? Haben sich die deutschen Parteien um den Unterschied gekümmert zwischen einem europäischen Deutschland und einem deutschen Europa, das vielen Europäern immer fremder wird? Haben die Wahlkämpfer gemerkt, dass die fehlende europäische Demokratie allen Nationalismen Vorschub leistet und wenn ja, was gedenken sie nach der Wahl diesbezüglich zu tun?

Die Antworten auf diese rhetorischen Fragen sind Nein. Europa war in einer europäischen Reformperspektive gar kein Thema dieser deutschen Wahlen. Es wurde um die für Europa angemessene deutsche Europapolitik gar nicht gerungen. Das bedeutet wiederum, dass die Europäerinnen und Europäer wenn sie denn wählen dürften gar nicht wüssten, wen sie wählen sollten. Denn was Obama in seinem Wahlkampf der ganzen Welt deutlich machen verstand, hat Frau Merkel den Europäern verschwiegen. Das macht aus der Bundeskanzlerin nicht nur einen «Leader Europas wider Willen» wie es die New York Times formulierte, sondern was erst richtig gefährlich wird, eine unverstandene Leaderin. Die Folgen sind: Die auf europäischer Ebene notwendigen institutionellen Reformen unterbleiben. Es öffnet sich ein Vakuum, das die europäische Integration in Frage stellt und die in den meisten Ländern schon erwachten Nationalisten weiter stärkt.

Dieses diskursive Defizit führt uns zum zweiten grundsätzlichen systemrelevanten Problem dieser Wahl, die jede kommende Regierung schwer belasten wird. Normalerweise pflegen Wahlkämpfer sich im Wahlkampf zu bemühen, für bestimmte Politiken und Perspektiven Zuspruch, wenn möglich sogar Mehrheiten zu gewinnen. Das heisst, man versucht bestimmte Politiken zu legitimieren. Man versucht vor den Wahlen Bürgerinnen und Bürger von der Richtigkeit von bestimmten Politiken zu überzeugen, die einen dann wählen und somit mit der Realisierung dieser Politik beauftragen und diese somit auch legitimieren. Legitimation durch diskursives Verfahren sozusagen.

In der Logik der Repräsentation: Kandidaten und Parteien versuchen für ihre Positionen Menschen zu überzeugen, von denen sie dafür gewählt werden, diese Positionen nach der Wahl im Bundestag und der Regierung zu vertreten, beziehungsweise umzusetzen. Derart können sie die meisten Wähler repräsentieren. Von Regierungsmitgliedern, die ein neues Mandat suchen, erwartet die repräsentative Demokratie, dass sie im Wahlkampf ihre Wähler beispielsweise von ihren europapolitischen Konzepten überzeugen – weshalb sie beispielsweise die Regierungskooperation stärken und die zumindest embryonal demokratisch beschliessenden Gemeinschaftsinstitutionen (Parlament, Kommission) schwächen - und so die Legitimität erhalten, damit fortzufahren. Gelingt dies ihnen nicht, dann bekommen andere die Legitimität, es anders besser zu versuchen. Freilich kann dies nur dann gelingen, wenn andere es schon im Wahlkampf besser versuchten und für alternative Konzepte wirklich geworben haben.

Ein Teflon-Wahlkampf weist jegliche diskursive Anstrengungen ab. Die Folge sind systemische Repräsentations- und Legitimationslücken. Die neue Mehrheit kann nicht behaupten, für eine bestimmte Politik legitimiert zu sein. Die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich noch weniger repräsentiert. Die politische Entfremdung steigt, noch mehr Bürger wenden sich von der Politik ab und dem Versuch, gemeinsame Angelegenheiten im Interesse der meisten vernünftig zu gestalten. Und die herrschenden Machtverhältnisse verschieben sich weiter von den demokratischen Institutionen zu den kapitalorientierten Märkten.

Selbstverständlich gibt es auch hier eine Reformalternative: Die von offenbar 90 Prozent der Kandidaten zum Bundestag offenbar begrüsste Erweiterung des Grundgesetzes um direktdemokratische Bürgerrechte könnten bei einer umsichtigen und bürgerfreundlichen Ausgestaltung die repräsentative Demokratie wieder repräsentativer machen. Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene vereiteln die Erosion der öffentlichen Diskussion ins Allgemeine und teflonierte Nichts und veranlassten Parteien, parlamentarische wie ausserparlamentarische Akteure dazu, zumindest zwischen den Wahlen die Bürgerinnen und Bürger von präzis und konkreten bestimmte Politiken zu überzeugen und sie so zu legitimieren.

Doch ohne weiteres gibt es diese von vielen seit Jahrzehnten verlangte Erweiterung des Grundgesetzes nicht. Wer zu viel Macht hat, sagte Erhard Eppler einmal, ist nur dann bereit zu teilen, wenn er fürchten muss, sonst alle Macht zu verlieren. Dies wird erst dann möglich sein, wenn sich genügend Bürgerinnen und Bürger der Politik zuwenden und sich engagieren. Dies gilt sowohl für die dringende Verfassung der Demokratie jenseits des Nationalstaates in der EU wie auch für die Erweiterung und Stärkung der repräsentativen Demokratie in Deutschland selber.


Andreas Gross ist Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter, Schweizer Nationalrat und Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.


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