6. Mai 2012

Südostschweiz

Die Ukraine wird Julia Timoschenko ausreisen lassen


Andreas Gross rechnet damit, dass die Ukraine Julia Timoschenko noch vor dem Beginn der EM ausreisen lassen wird. Der Umgang des ukrainischen Präsidenten Janukowitschs mit seine Konkurrentin zeige, wie sehr das Land von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten entfernt sei. Doch auch Timoschenko ist kein Engel.

Interview: Steffen Klatt

Wiktor Janukowitsch ist seit zwei Jahren Präsident, Julia Timoschenko seit Herbst in Haft. Der Termin der EM in der Ukraine steht seit Jahren fest. Wa­rum kocht jetzt der Fall Timoschenko hoch?

Andreas Gross: Der Fall Timoschenko beschäftigt den Europarat seit einem Jahr in jeder Session. Wir dürfen beide Seiten dieses Konflikts weder ideali­sieren noch unterschätzen. Julia Timoschenko weiss ganz genau, dass ihr jetzt vor der EM die Aufmerksamkeit sicher ist. Wiktor Janukowitsch erweckt seinerseits den Eindruck, als ob die ehemalige Ministerpräsidentin und Anführerin der orangenen Revolution so etwas wie sein persönlicher Feind ist. Das eskaliert seit fast zwölf Monaten. Der Streit wird von beiden Seiten in einer Unnachsichtigkeit geführt, welche der ganzen Ukraine schadet.

Hat Julia Timoschenko das Thema mit ihrem Hungerstreik ganz gezielt jetzt auf die Agenda gesetzt?

Das ist allzu machiavellistisch gedacht. Julia Timoschenko ist krank und ist misshandelt worden. Sie nutzt die Gunst der Stunde, dass das nicht ver­ges­sen geht. Timoschenko ist kein Engel. Aber auch Menschen, die keine Engel sind, haben Menschenrechte, die respektiert werden müssen. Das gilt jetzt ebenso wie in ihrem ganzen Prozess, der mehr von der Macht und deren Revanchegelüste geprägt war als von Recht und Gerechtigkeit.

Ist der Fall Timoschenko dann schlicht ein humanitärer Fall: Eine kranke Frau sitzt im Gefängnis und sollte in medizinische Behandlung?

Einerseits haben Sie recht: Es ist ein humanitärer Fall, in dem schnell gehandelt werden sollte. Andererseits ist der Fall Ausdruck einer unklaren höchst widersprüchlichen Gesetzgebung, wie so vieles in der Ukraine. Wie in Russland sind die Gesetze viel zu lang, zu detailliert und zu widersprüchlich. Politische Mehrheiten können diese Gesetze willkürlich nutzen, um gegen ihre Gegner vorzugehen. Das ist drittens Ausdruck mangelnder rechts­staat­li­cher Verhältnisse. Diese werden von einer autoritären Macht nicht nur gegen Timoschenko, sondern auch gegen andere ehemalige Politiker und oppositionelle Bürger ausgenutzt.

Die FDP-Nationalrätin Christa Markwalder schlägt vor, Timoschenko zur Behandlung in die Schweiz zu holen. Ist das sinnvoll?

Die Schweizer glauben immer, ihr Land müsse bei jeder Aktion ins Zentrum gestellt werden. Julia Timoschenko ist schon lange in Behandlung bei einem deutschen Arzt in Berlin. Dieser Arzt hat sie auch im Februar besucht, wenn ich es richtig verstanden habe. Deshalb reicht es aus, wenn die Schweiz öffentlich die Bemühungen Deutschlands unterstützt, dass Timoschenko nach Berlin zu diesem Arzt gehen darf.

Kann Janukowitsch Timoschenko gehen lassen, ohne das Gesicht zu verlieren?

Es ist nie zu spät, klüger zu werden. Janukowitsch würde damit beweisen, dass er bereit ist, nicht über Leichen zu gehen. Das würde dem ganzen Land und vielleicht sogar ihm selber zum Vorteil gereichen. Aber solche Männer haben noch kaum je gelernt, dass eine vermeintliche Schwäche auch eine echte Stärke sein kann.

Warum verlangt Europa nicht geschlossen die Freilassung Timoschenko?

Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Die Ukraine ist nicht Russland. Die Handlungs-Kompetenz im Westen sowie die Einsichten in deren Hinter­grün­de sind bezüglich der meisten anderen Staaten Osteuropas ist nicht sehr gross. Es geht ausserdem immer auch um Energiepolitik. Die Ukraine ist ein Durchgangsland für russisches Gas und Öl. Manche Regie­rungen haben Angst vor geschäftlichen Nachteilen. Drittens hat Julia Timoschenko auch politische Fehler gemacht und Anteil gehabt an der oligarchischen Struktur.

Was halten Sie von den Forderungen, die EM zu boykottieren?

Ich finde sie richtig. Als offizieller Besucher würde ich nicht hingehen, als privater Fan nur nach Polen und die Spiele in der Ukraine in polnischen Städten und deren grossen Bildschirmen mir ansehen. Der Sport hat gerade dort schon lange seine politische Unschuld verloren. Man kann sich am Sport nicht freuen und auch keine schönen Spielzüge und Tore bewundern, wenn gleichzeitig Menschen existentiell gefährdet sind und ihre Würde mit Füssen getreten wird. Das gilt für die Formel 1 in Bahrain genauso wie für Eishockey in Weissrussland und für den Fussball in der Ukraine. Der Fussball in der Ukraine ist im übrigen von den gleichen Oligarchen beherrscht wie die politische Mehrheit dort. Es kann gut sein, dass auch deswegen in der Ukraine im Unterschied zu Polen noch 50'000 Tickets zu kaufen sind, weil viel mehr Fans auf Distanz gehen, ganz abgesehen davon, dass viele auch zu arm sind, um sich einen Platz im Stadion zu kaufen.

Die EU droht, das Assoziationsabkommen mit der Ukraine nicht zu ratifizieren. Wäre das der richtig? Oder halten Sie es mit Egon Bahr und der Politik Deutschlands gegenüber dem Ostblock, der auf Wandel durch Annäherung setzte?

Wandel durch Annäherung ist ein richtiger Vergleich. Man kann von der Politik der 60er bis 80er Jahre, die Egon Bahr mitformuliert hat, viel lernen. Dabei ging und geht es aber um eine Zeit von zehn bis zwanzig Jahren. Wenn nun die Ratifizierung aufgeschoben würde, dann geht es um Wochen oder Monaten. Später, wenn das akute Problem gelöst ist, kann man wieder darauf zurückkommen. Ich bin ein grosser Anhänger der EU-Beitrittsperspektive der Ukraine – wie auch der Türkei. Das ist in beiderlei Interesse sehr wichtig.

Am 1. Juni tritt das Freihandelsabkommen der Efta-Staaten, also auch der Schweiz, mit der Ukraine in Kraft. Ist das ein guter Zeitpunkt?

Das ist wie mit der Vergabe der EM an die Ukraine: Das Datum steht seit langem fest. Das sollte man nicht in Frage stellen. Man sollte vielmehr diese Annäherung brauchen, um sich gegenüber der Ukraine, beziehungsweise deren offizielle Vertreter deutlicher und kritisch auszusprechen. Partner müssen sich miteinander verständigen, wenn Konflikte auftreten und ihre Kritik deutlich machen.

Kann man Schweizer Unternehmen jetzt mit gutem Gewissen raten, mit der Ukraine Geschäfte zu machen?

Grundsätzlich sollte man Handelsbeziehungen nicht in Frage stellen. Man sollte sie aber dafür brauchen, um auch über die anderen Themen zu sprechen. Die Basis von Janukowitsch ist nicht gross. Es gibt sehr viele ökonomischen Akteure, die ihn genauso kritisieren, wie wir das tun. Nur können sie das nicht im politischen System selbst tun, da die Opposition sehr schwach ist. Zu wirtschaftlicher Freiheit gehört auch ein gewisses Mass an politischer Freiheit. Ein gutes Geschäft ist in einem Land nicht möglich, in dem der Rechtsstaat schwach ist. Deshalb haben auch die ukrainischen wie die Unternehmen bei uns ein grosses Interesse an rechtsstaatlichen Verhältnissen.

Welche Rolle spielt der Europarat, dem auch die Ukraine angehört?

Die Ukraine ist seit ihrem Beitritt vor 16 Jahren ein permanentes Thema intensivster Debatten. Die Berichte und Anstösse zu mehr Achtung der Menschenrechte gehören zum besten, was der Europarat in den ver­gan­ge­nen 20 Jahren geleistet hat. Der Europarat hat auch zur orangenen Revolu­tion beigetragen. Er wird auch im Herbst wieder Beobachter zu den Wahlen schicken. Er hat den Fall Timoschenko und seine Hintergründe immer wieder thematisiert und damit dazu beigetragen, dass das Thema in aller Munde ist. Man darf aber nicht vergessen: Der Europarat hat keine strafrechtliche Macht. Er kann die Öffentlichkeit informieren und er kann vor Ort mit den Regie­run­gen und Parlament offen reden. Er kann überzeugen, aber nicht befehlen.

Und diese Überzeugungskraft findet Ihre Grenzen am Machtwollen der Regierungen?

Ja, und an den Interessen der westlichen Regierungen, die nicht alle immer so mutig sind wie derzeit und in diesem Fall die deutsche.

Was ist in der Ukraine nach der Unabhängigkeit falsch gelaufen?

Die Ukraine war nie ein eigener Staat gewesen, ihre Sprache wurde Jahr­zehn­te lang unterdrückt und lange die Kornkammer, ja sogar das Rütli der Russen und der Sowjetunion. In den 1930er ist ihr Schreckliches angetan worden, über 10 Millionen Bauern verhungerten in einer politisch inszenierten Hungersnot. Während des 2. Weltkriegs war sie einer der blutigsten Kriegs­schau­plätze und wiederum fielen Mlllionen der Gewalt zum Opfer Bis heute ist die Ukraine ein gespaltenes Land mit vielleicht mehr als zwei Teilen. Der westliche Teil gehörte zum Habsburgerreich, dort, beispielsweise in Luiv, fühlt man sich als Europäer völlig zu Hause, während der östliche Teil die sowjetische Mentalität verkörpert. Der Ukraine wurde es auch nicht einfach gemacht, sich zu emanzipieren. Die wirtschaftliche Stärke ist da vielleicht sogar ein Nachteil, weil sie die Basis für das Aufkommen der Oligarchen gebildet hat. Im Parlament sitzen mehr Oligarchen als in sonst einem Land Europas. Sie schützen mit der parlamentarischen Immunität ihre krummen Geschäfte. Das macht es der Gesellschaft enorm schwer, einen eigenen Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu finden und zu gehen.

Trotzdem hat es in diesem Land 2004 eine demokratische Revolution gegeben. Warum hat die Ukraine diese Chance verpasst?

Dieses Ereignis zeigt die Schwierigkeiten und die Heterogenität dieses Lan­des. Einerseits ist es positiv, dass diese Revolution überhaupt möglich war. Andererseits hat das Personal, das diese Revolution hervorgebracht hat, total versagt.

Dazu gehörte auch Timoschenko …

Es hat nicht nur Wiktor Juschtschenko versagt, der ehemalige Notenbank­prä­si­dent, der dann Präsident wurde. Er und Timoschenko wurden sofort zu Rivalen. Sie hätten Kompromisse machen müssen und haben stattdessen das Erbe der Revolution verschachert und Hunderttausende vor allem auch von jungen Menschen enorm enttäuscht, von der Politik entfremdet und in die eigentliche oder innere Emigration getrieben. Man darf aber nicht vergessen, dass diese Revolution Fortschritte gebracht hat, die sich nicht mehr rück­gän­gig machen lassen. Dazu gehört die Meinungsfreiheit, die bis heute sehr viel grösser ist als je vor 2004. Aber die Korruption, die Käuflichkeit der Richter, die willkürliche Handhabe der Macht, die fehlende Rechtstaatlichkeit, der mangelnde Respekt gegenüber den Menschenrechten wurden nicht überwunden. Das zeigt sich auch im Fall Timoschenko.

Timoschenko hat wahrscheinlich ihr Vermögen in den 90er Jahren nicht nur auf legale Art und Weise gemacht …

Nur weil Timoschenko das damals gemacht hat, hat Janukowitsch nun nicht auch das Recht, es ebenso zu machen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, das sind Lernprozesse, die sich nur beschleunigen lassen, wenn man einen Neuanfang wagt. Es ist überrascht mich nicht, dass so viele junge Leute verzweifelt versuchen, das Land zu verlassen, nach Kanada und in die USA, weil sie so enttäuscht sind. Seit 1999 habe ich etwa zehn Wahlen in der Ukraine beobachtet und immer wieder mit jungen Leuten diskutiert. Ich habe ihre Hoffnung in die und ihr Engagement während der Revolution erlebt und ihre riesige Enttäuschung danach. Ihre Konsequenz: Sie wollen mög­lichst schnell weg. Sie können ihre Kreativität in der heutigen Ukraine nicht entwickeln, die Freiheit nicht ausleben, suchen vergeblich nach etwas weniger Unrecht und mehr Gerechtigkeit und intakte Lebenschancen.

Haben sie damit recht?

Individuell kann man das verstehen. Aber wenn alle guten Leute weggehen, wird es für diejenigen Leute noch schwerer, die keine Möglichkeit haben, das Land zu verlassen.

Wer kann die Hoffnung auf einen Wandel verkörpern?

Es gibt Tausende in diesem grossen Land, die politisch aktiv werden könnten und die Politik nicht zu einem krummen Geschäft machen wollen. Diese neue Generation müssen wir unterstützen. Timoschenko, nachdem sie gepflegt worden und wieder gesund geworden ist, sollte die Karten offen auf den Tisch legen, ihre Rechnungen aus den 90er Jahren, die Dokumente zum Gasvertrag mit Russland, ihre Preispolitik, ihre Marge. Damit könnte sie auch ihre eigene politische Glaubwürdigkeit wieder finden. Dann würde auch klar, wieviel und welche Zukunft mit ihr möglich sein wird.

Wird Timoschenko noch in Haft sein, wenn die EM beginnt?

Nein. Ich erwarte, dass sie in den nächsten zehn Tagen nach Berlin ins Spital gehen darf. Das würde allen Beteiligten nur gut tun.


Zur Person:
Andreas Gross, seit 1991 Zürcher SP-Nationalrat, gehört der Parlamenta­ri­schen Versammlung des Europarates an und gehört dort zu denen, die sich am stärksten für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in den ehemaligen Sowjetrepubliken einsetzt. Seit 2008 ist er Präsident der sozialdemokratischen Fraktion des Europarates.


Kontakt mit Andreas Gross



Nach oben

Zurück zur Artikelübersicht