25. Nov. 2009

Basler Zeitung

Andi Gross: «Frieden ist eine genuin europäische Angelegenheit»


Interview: Sereina Gross und Martin Furrer

BaZ: Herr Gross, Herr Cassee, kennen Sie sich persönlich?

Andreas Gross: Vom Namen her kenne ich Herrn Cassee, miteinander diskutiert haben wir aber noch nie.

Tom Cassee: Ich sehe Herrn Gross das erste Mal.

Wie würden Sie Andreas Gross charakterisieren?

Cassee: Ich kenne seine persönlichen Einstellungen nicht. Im Prinzip kämpfen wir für ähnliche Ziele.

Andreas Gross ist der Vater der GSoA. Sie haben doch ein Bild von ihm.

Cassee: Ich kam 1994 zur GSoA, da war Andi Gross schon nicht mehr dabei. Aber im GSoA-Archiv ist er immer präsent. Ich bewundere den Tabubruch, den er 1989 mit der ersten Initiative zur Armeeabschaffung gemacht hat.

Ist Andi Gross nur im Archiv präsent oder auch im Leben der jungen GSoA-Generation?

Gross: Sie wollen mich zu einem Über-Ich machen.

Cassee: Andi Gross ist natürlich mehr als eine Archivfigur. Aber sein Name fällt bei uns nicht mehr täglich.

Herr Gross, wie würden Sie Herrn Cassee charakterisieren?

Gross: Weil er noch nicht so häufig in den Archiven auftaucht, kenne ich ihn noch nicht so gut. Spass beiseite: Er gehört zu den guten jungen GSoA-Managern und -Organisatoren.

Hören wir da einen abschätzigen Unterton heraus? Wollen Sie damit sagen, dass heute bei der GSoA statt politischer Köpfe Verwalter am Werk sind?

Gross: Nein, das nicht. Aber es gibt tatsächlich einen Unterschied zwischen der GSoA der Gründerzeit von 1979, der GSoA von 1989 und derjenigen von heute. Wir haben vor dreissig Jahren zu viert eine Bewegung ins Leben gerufen. Heute ist die GSoA etabliert; sie kann auf Knopfdruck eine Initiative oder ein Referendum starten. Die GSoA-Gründerväter haben sich aber nie als Manager verstanden.

Gross: Ich persönlich sowieso nicht. Das Organisatorische gehört nicht zu meinen Stärken. Es braucht in der GSoA beides: das inhaltlich Inspirierende und das Organisatorische.

Gibt es in der GSoA heute noch Denker?

Gross: Ich meine schon, obwohl ich die heutige GSoA nicht mehr so gut kenne. Einen Unterschied gibt es beim Denken: Wir haben damals erkannt, dass es Bürgerrechte braucht, um die Friedenspolitik zu beeinflussen. Ohne direkte Demokratie hätten wir die Diskussion um die Armee nie führen können. Frieden ist eine genuin europäische Angelegenheit. Wir müssen also auf europäischer Ebene dafür kämpfen.

Welche Rolle spielt Europa heute in der GSoA, Herr Cassee?

Cassee: Andi Gross hat die europäische Frage stark ins Zentrum gestellt. Für uns ist das nicht so wichtig. Wir arbeiten primär in der Schweiz, weil wir hier etwas verändern können.

Wo liegt der Ehrgeiz der GSoA heute?

Cassee: Wir definieren uns als Antimilitaristen. Meine Generation wurde politisiert durch die Globalisierung und den Irak-Krieg. Wir sind uns aber bewusst, dass wir trotz globaler Probleme vor allem hier in der Schweiz etwas verändern müssen.

Herr Gross, beim Stichwort GSoA fällt den meisten immer noch Ihr Name ein. Macht Sie das stolz?

Gross: Naja, dass man die GSoA mit meinem Namen verbindet, ist kein Grund für Stolz. Aber dass wir vor zwanzig Jahren mit der ersten Armee-Abschaffungsinitiative die erfolgreichste Niederlage in der Geschichte der Schweizer Demokratie erreicht haben, das ist schon etwas. Wir waren ja nicht einfach Träumer. Wir wollten, dass jeder in jeder Beiz öffentlich die Armee kritisieren kann, ohne hinausgeworfen zu werden. So etwas war bis Mitte der Achtzigerjahre nicht selbstverständlich. Und dank den 35,6 Prozent Ja-Stimmen entstand ja unter anderem auch der Druck, den Zivildienst einzuführen.

Herr Gross, wie sähe die GSoA heute aus, wenn Sie noch dabei wären?

Gross: Die Medien hatten mich zu einer so zentralen Figur gemacht, dass sich die GSoA gar nicht hätte weiterentwickeln können, wenn ich dabeigeblieben wäre. Für mich war es ein richtiger Entscheid und, nüchtern betrachtet, wohl auch für die GSoA.

Cassee: Wenn eine Organisation so stark auf eine Figur reduziert wird, schafft das Probleme. Es ist richtig, dass die GSoA heute verschiedene Repräsentanten hat.

Herr Gross, können Sie sich vorstellen, sich wieder für die GSoA zu engagieren?

Gross: Man soll niemals nie sagen. Ich müsste die heutige GSoA erst einmal richtig kennenlernen. Zudem hat für mich die Abschaffung der Armee nicht mehr erste Priorität.

Sondern?

Gross: Die Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht und der Ersatz durch eine freiwillige Dienstleistung müssen das Ziel sein. Das wäre nicht revolutionär: Viele europäische Staaten haben das schon gemacht. Wenn sich die GSoA auf ein solches Projekt einigen könnte, würde ich es mir überlegen.

Cassee: Die Abschaffung der Armee bleibt unser Fernziel. Wenn man den Sicherheitsdiskurs in die Hände der Militärs gibt, ist die Antwort klar: Militärs rufen immer nach Aufrüstung, mehr Ressourcen, mehr Soldaten. Trotzdem werden Kriege nicht verhindert.

Herr Cassee, ist es nicht symptomatisch, dass Herr Gross die Idee einer Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht lanciert und nicht die GSoA?

Cassee: Nein, dieses Thema kommt immer wieder aufs Tapet. Dank uns gibt es mit dem Zivildienst eine freiwillige Dienstleistung als Alternative zum Militär.

Herr Cassee, Sie wollen nicht bei der Wehrpflicht ansetzen. Stattdessen haben Sie 2001 eine zweite Armeeabschaffungsinitiative lanciert, die deutlich schlechter abschnitt als die erste. War das ein Fehler?

Cassee: Nein, die Initiative war richtig. Die GSoA ist heute die friedenspolitische Kraft in der Schweiz. Das haben unter anderem die Demonstrationen gegen den Irak-Krieg gezeigt, welche die GSoA organisiert hat. Und über die Kampfflugzeugbeschaffung würde man ohne unsere Initiative heute wohl auch nicht so kontrovers diskutieren. Wir haben vieles richtig gemacht in den vergangenen Jahren.

Wirklich? Die Tiger werden vorerst nicht ersetzt, aber nicht wegen Ihrer Initiative, sondern weil das Geld fehlt. Hinkt die GSoA der Zeit hinterher?

Cassee: Im Gegenteil. Wir sind der Zeit voraus. Bundesrat Ueli Maurer will auf die Beschaffung verzichten, weil er erkannt hat, dass er die Flieger im Parlament nicht durchbringen wird. Ohne unsere Initiative würde die Diskussion bestimmt anders laufen. Wir haben die Agenda gesetzt.

Noch heute reduziert man die GSoA auf ihre Rolle als Armeeabschafferin. Ärgert oder freut Sie das?

Cassee: Es erschwert die Diskussion. Dabei geht es uns beispielsweise bei der Kriegsmaterialexportinitiative nicht um die Abschaffung der Armee.

Genau das wird Ihnen aber vorgeworfen.

Cassee: Das ist Unsinn. Wenn wir die Armee abschaffen wollten, würden wir eine Initiative dazu machen. Andi Gross hat die europäische Frage ins Zentrum gestellt. Doch die EU remilitarisiert sich.

Gross: Wenn Armeen noch sinnvoll sind, dann auf europäischer oder globaler Ebene, im Rahmen friedenserhaltender Operationen unter Uno-Flagge.

Herr Cassee, könnte sich die GSoA hinter solche Einsätze stellen?

Cassee: Man müsste die Einsätze sehr genau anschauen. Was heute als humanitäre militärische Intervention verkauft wird, ist es oft nicht. Der Irak-Krieg war völkerrechtswidrig, es ging um wirtschaftliche Interessen, wie beim Krieg in Afghanistan, wo die Zivilbevölkerung am meisten unter der sogenannten humanitären Interventionen leidet. Wenn man dereinst einer demokratisierten Uno das Weltmonopol für Gewalt zuerkennen würde, hätte ich nichts dagegen. Heute aber kann die Rolle der Schweiz nur eine zivile sein. Die Schweizer Armee mit Auslandeinsätzen legitimieren zu wollen, halte ich für falsch.

Die Schweiz will Sicherheit heute durch militärische Kooperationen erzeugen. Das ist doch kein schlechtes Konzept.

Cassee: Peace Keeping. Das ist ein nettes Wort. Aber was bedeutet es für die Menschen in den betroffenen Weltregionen? Wenn es nur darum geht, mit dem Konzept der Sicherheit durch Kooperation unsere wirtschaftlichen Interessen mit militärischer Gewalt zu verteidigen, dann ist das Neoimperialismus. Die grossen weltweiten Probleme sind Armut und Klimakatastrophen. Die Militärausgaben steigen weltweit. Die Prioritäten werden falsch gesetzt. Die Armeen leisten bloss Symptom-Bekämpfung.

Herr Gross, sind Sie ein Neoimperialist?

Gross: Natürlich nicht. Tom Cassee hat aber recht, wenn er sagt, dass die Prioritäten weltweit falsch gesetzt sind. Es ist tatsächlich obszön, dass heute weltweit wieder fast soviel Geld für die Rüstung ausgegeben wird wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Aber es gibt Konflikte wie etwa denjenigen zwischen Armenien und Aserbaidschan, die explosiv sind. In der Region Karabach könnte eine internationale Armeetruppe gewaltmindernd wirken so wie heute Polizisten vor dem Fussballstadion Ausschreitungen durch ihre Präsenz verhindern.

Cassee: Die zweite Armeeabschaffungsinitiative enthielt einen Passus, der die Möglichkeit beinhaltete, der UNO ein Kontingent von Schweizer Soldaten zur Verfügung zu stellen. Die Idee, die Andi Gross ausbreitet, ist bei der GSoA nicht umstritten.

Herr Cassee, Sie sind also nicht gegen Friedenssicherung mit militärischen Mitteln?

Cassee: Es mag Situationen geben, die ein Eingreifen rechtfertigen. Aber gerade in der Region Karabach geht es um so viele wirtschaftliche Interessen, dass eine Entsendung von Schweizer Soldaten heikel wäre.

Warum lanciert die GSoA Initiativen etwa gegen Kriegsmaterialexporte, die ohnehin zum Scheitern verurteilt sind? Sollte sie sich nicht auf die internationale Friedensförderung konzentrieren?

Cassee: Man kann das eine nicht gegen das andere ausspielen. Die GSoA kämpft für ihre Ziele, bis sie die erreicht hat. Volksinitiativen tragen zur Bewusstseinsbildung bei.

Trotzdem: Wäre es für die GSoA nicht eine Chance, so langfristig vom Abschaffer-Image wegzukommen?

Cassee: Wir tun das heute schon. Militärausgaben und Entwicklungshilfe stehen in einem Zusammenhang. Die Schweiz muss innenpolitisch mit gutem Beispiel vorangehen, sonst kann sie international nichts erreichen.

Dank Ihrer Kriegsmaterial-Initiative dürfen Waffen auch wieder an Staaten geliefert werden, die wie Deutschland unter Uno-Flagge Krieg führen. Das war doch für Sie kontraproduktiv.

Cassee: Nein, das kann man nun wirklich nicht behaupten. Bislang hat der Bundesrat Waffenexporte einfach durchgewinkt. Jetzt ist er kritischer.

Gross: Und die GSoA hat erreicht, dass 70 Professoren Kritik an der heutigen Waffenexportpraxis geübt haben. Das wird in den Köpfen hängen bleiben und jedes Abstimmungsresultat überdauern. Der Bund wird das geltende Recht restriktiver interpretieren müssen.

Was kann die GSoA dagegen tun?

Cassee: Man kann der GSoA nicht vorwerfen, sie sei die falsche Organisation, um etwa gegen Kriegsmaterialexporte zu kämpfen. Wir tun das, weil es sonst niemand tut, und weil wir initiativfähig sind.

Wird es die GSoA in zwanzig Jahren noch geben?

Gross: Sehr wahrscheinlich schon. Weil es die Wehrpflicht dann immer noch gibt und die Armee ebenfalls.

Cassee: Es wird die GSoA noch geben. Wenn sich die Politik grundlegend in Richtung einer zivilen Friedenspolitik entwickeln sollte, bräuchte es die GSoA nicht mehr. Wir werden alles tun, damit es soweit kommt.

Gross: Die GSoA ist also bereit, sich selber abzuschaffen. Wenn das keine reife Leistung ist!

Und der Name GSoA soll bleiben?

Cassee: Zur Zeit führen wir keine Namensdiskussion. Das macht auch keinen Sinn. Wir blicken auf eine erfolgreiche Geschichte zurück. Unsere Herkunft wollen wir nicht mit einem neuen Namen verleugnen.


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