12. Okt. 2008

Sonntags-Zeitung
Zürich

«Manche halten es für
das schönste Haus in der Stadtmauer»


Der Politiker und Berufsdemokrat Andreas Gross zieht sich gerne ins historische Gemäuer von St-Ursanne zurück

Von Roger Anderegg (Text) und
Zsigmond Toth (Fotos)


Allein im laufenden Jahr war er im politischen Auftrag in Georgien, New York, Slowenien, der Ukraine, in der Türkei und in Russland im Einsatz, ebenso für einen grossen UN-Reform-Bericht in New York, dazu als Wahlbeobachter je zweimal in Mazedonien und in Serbien. Dann die Sitzungen des Europarats in Strassburg, wo er als erster Schweizer als sozialdemokratischer Fraktionschef tätig ist, und dessen verschiedenen Kommissionen in Paris. Weiter die Sessionen des Nationalrats in Bern, der Lehrauftrag an der Universität Jena, ein anderer an der Pädago­gischen Hochschule Aarau, dazu seine ausufernde Vortragstätigkeit von Wien bis hinüber nach Neuseeland. Das volle Programm ergibt gut und gern mehr als zweihundert Nächte im Jahr fern von zu Hause.

Einer, der so oft und so rastlos unterwegs ist, braucht auch ein paar Konstanten im Leben. Domizilmässig sind das für den Politiker und Politikwissenschafter Andreas Gross, 56, seine kleine Wohnung in Zürich und fast mehr noch sein Haus im jurassischen St-Ursanne, diesem mittelalterlichen städtebaulichen Bijou. Das Haus, ein Eckhaus der historischen Stadtmauer, stammt aus dem 16./17. Jahrhundert und ist Gross’ geistig-seelischer Rückzugsort, Ruhepol und Energietankstelle. Während er atemlos in der Welt herumkurvt, fliesst hier, gleich vor dem Haus, der stille Doubs vergleichsweise zeitlos ewig in Richtung Frankreich.

Der Hausherr – in Jeans, dunkelblauem Pullover, die Mähne noch immer schulterlang, aber inzwischen fast weiss – wirkt, wie er uns im uralten Gemäuer empfängt, ein bisschen wie ein russischer Adeliger, der sich im Jahrhundert geirrt hat. Entdeckt hat Gross das Haus mit seinen über einen Meter dicken Wänden und dem Kachelofen aus dem Jahr 1746 per Zufall, als er einst einer Freundin seine Lieblingsorte in der Schweiz vorführte und mit ihr durch St-Ursanne flanierte. Bevor er es ab 2002 von verwandten und lokalen Handwerkern sanft renovieren liess, hatte es 30 Jahre lang leergestanden. «Manche halten es jetzt für das schönste Haus in der Stadtmauer», sagt er. «Das sonnigste ist es, dank seiner Lage, auf jeden Fall.» Auf der Sonnenseite liess Gross eine Holzterrasse anbauen. Sie und der geräumige Umschwung mit mehreren Apfelbäumen vermitteln ländliche Geruhsamkeit.

Doch bei Gross’ permanenter globaler Aktivität unterliegt selbst der Rückzugsort dem Generalplan und dient also nicht vordringlich der Erholung und Entspannung, sondern der Konzentration und Vertiefung. Entsprechend bescheiden ist der eigentliche Wohnraum: ein Wohn­zimmer mit Kücheninsel, grossem Esstisch und Sitzgruppe, Buffet und Schwedenofen. Auf dem Terrakottaboden mehrere flauschige Gabbehs, an den Wänden alte Stiche. Im Schlafzimmer des Hausherrn liegen Hemden, Hosen und Pullover griffbereit für den nächsten Auslandseinsatz.

Der grosse Anteil am Gesamtvolumen von 300 Quadratmetern auf drei Stockwerken aber gehört den Büchern, Broschüren und Papierstössen. Auf «gegenwärtig etwa 5000 bis 7000 Titel» veranschlagt Gross die Be­stände seines Ateliers für Direkte Demokratie. Dabei handelt es sich vielfach um grossformatige Nachschlagewerke und dicke Wälzer; prompt musste man die Böden mit Stahlträgern verstärken. Weitere 15‘000 Bände lagern in der ehemaligen Uhrmacherwerkstatt, die Gross’ Freund und Kompagnon Fredi Krebs ein paar Meter ausserhalb der Stadtmauer erworben hat: Beide sollen gemeinsam einmal den Bibliotheksteil des noch zu gründenden Jurassischen Zentrums für europäisches Denken und Diskussionen bilden.

Die Bestände in Gross’ Atelier konzentrieren sich im Wesentlichen auf die Gebiete Schweiz, Europa, direkte Demokratie, politische Philosophie und Utopie – und sofort führen uns, als wir gemeinsam die Buchrücken­parade abschreiten, Titel und Autoren in eine uferlose Diskussion über Thesen und Temperamente. Häufig hat Gross Studenten im Haus, die sich für eine Arbeit umfassend dokumentieren wollen, und er veranstaltet hier auch Kurse mit bis zu zwölf Teilnehmern. «Das Atelier soll ein Teil des politischen Denk- und Diskussionszentrums werden», sagt er.

Einer seiner Merksätze heisst: «Politisches Denken und Handeln bedingen ein konkretes utopisches Konzept.» Sozusagen berufsmässig analysiert der Politikwissenschafter Voraussetzungen und Folgen politischen Handelns. So hat der einstige Soldat Gross – damals als Aktivist der GSoA (Gruppe Schweiz ohne Armee) – schon sehr früh die Notwendigkeit der Schweizer Armee öffentlich in Frage gestellt und damit in der Volksabstimmung von 1989 eine unerwartet hohe Zustimmung für ihre Abschaffung erzielt. Er hat wesentlich auch den Uno-Beitritt der Schweiz mitinitiiert. Und Anfangs letztes Jahr hat er als Herausgeber des Buches Fahrplanwechsel aufgezeigt, wie Bundesrat Christoph Blocher, dessen Stil und Amtsführung er wie viele andere Bürger als Belastungs­probe der Demokratie empfand, abzuwählen wäre. Die Utopie hat sich im Dezember 2007 erfüllt.

Gross ist voller Sympathie für den Kanton Jura und voller Respekt für dessen Geschichte. Dem Jura fühlt er sich zugetan, der Jura ist – bei seinen Aktivitäten zwischen Paris, Strassburg, Bern, Basel und Zürich – zu «meinem natürlichen Lebensmittelpunkt geworden», und dem Kanton Jura wollen er und Krebs dereinst ihr Zentrum inklusive Atelier für Direkte Demokratie vermachen.

Hier in St-Ursanne entsteht auch das Programm der Editions le Doubs, wie Gross und Krebs ihren Verlag für politische Schriften nennen. «Fünf oder sechs Bücher möchte ich schon noch schreiben», sagt er. Die Lösung für «das Grundproblem des politischen Europa, die Distanz zu den Bürgern», sieht er «in einer föderalistischen Verfassung mit direkter Demokratie und folglich in der Bürgernähe», wie er überhaupt der Utopie «einer Weltdemokratie, einer Weltverfassung» anhängt. Bis zu deren Realisierung aber fliesst draussen der Doubs unbeeindruckt weiter Richtung Westen.

Design Your Life

Unterschiedliche Formen häuslicher Selbstverwirklichung vorzustellen ist das Thema der Serie, welche die Sonntags-Zeitung wöchentlich publiziert. Andreas Gross, 56, rasen­der Politiker und Politikwissenschafter, Nationalrat und Europarat, Verleger und Utopist, findet seinen Rückzugsort in einem alten Gemäuer in St-Ursanne, das Teil der historischen Stadtmauer ist.

Andreas Gross über seine erste Wohnung:
«Ein Zimmer im Zürcher Seefeld. Ich verdiente damals
mein Studium als Autosportjournalist.»

Gross über die Nachbarn:
«Unser Verhältnis ist locker, herzlich und entspannt.»

Gross über das Wohnen im Alter:
«Dann will ich mich fest hier in St-Ursanne einrichten.»


Kontakt mit Andreas Gross



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