24. Juli 2008

Aargauer Zeitung

Die EU und die Direkte Demokratie -
Zwei kommen sich näher


Von Andreas Gross
Andreas Gross ist Politikwissenschafter, Spezialist für Fragen der Direkten Demokratie, Nationalrat (Zürich) und Vorsitzender der SP-Fraktion in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Strassburg.


49 Volksabstimmungen haben in den letzten 36 Jahren in Europa über Europa stattgefunden. 17 von ihnen betrafen den Beitritt der EU: 15 Staaten sagten seit 1972 Ja – nur die Mehrheit der Norweger sagte zweimal Nein. 13 Mal ging es in sechs Ländern um die Ratifikation der Neufassung, beziehungsweise Erweiterung des Vertrages, welcher der EU zugrunde liegt: Achtmal stimmten Europäer ihm zu, fünfmal sagten sie Nein. So 1992 die Dänen (Maastricht-Vertrag), 2001 die Iren (Nizza-Vertrag), 2005 die Holländer und die Franzosen (Verfassungsvertrag) und am 12. Juni dieses Jahres wiederum die Iren zur leicht abgespeckten Variante dieses Verfassungsvertrages (Reformvertrag).

Acht dieser 49 europäischen Volksabstimmungen über Europafragen fanden übrigens in der Schweiz statt. Zwar haben wir noch nie über den EU-Beitritt abgestimmt, doch schon fünfmal zustimmend über den Freihandelsvertrag mit der EU (1972), die Bilateralen Verträge (2000), das Schengen-Abkommen (2005), die Personenfreizügigkeit (2005), den Kohäsionsbeitrag an die neuen EU-Mitgliedstaaten Zentraleuropas (2007); ebenso hat die Schweiz den EWR abgelehnt (1992) sowie zwei Volksinitiativen von links und rechts zu Verfahrensfragen im Zusammenhang mit einem möglichen Beitritt.

Die Dänen und die Iren haben seit 1972 je sechsmal schon über Europavorlagen abgestimmt (je viermal zustimmend, zweimal ablehnend), die Franzosen dreimal (zweimal zustimmend, einmal Nein sagend) sowie je zweimal die Norweger, Liechtensteiner und Schweden.

Aus Schweizer Sicht lässt sich als erste Bilanz festhalten: Die Direkte Demokratie ist in Europa und der EU nicht fremd. Im Unterschied zur Schweiz wird sie in Europa bloss seltener und gröber praktiziert, das heisst es kommen nur die ganz grossen Fragen zur Abstimmung, während in der Schweiz viel mehr über politische Teilbereiche präzis abgestimmt wird.

Gross fragen, heisst aber nicht gross antworten. Dies zeigen die Meinungsumfragen der letzten Jahre mit aller Deutlichkeit: Irländer, Franzosen und Holländer gehören zu den europabegeisterten Nationen der Europäischen Union (EU). Es geht ihnen also nicht um die Ablehnung der europäischen Integration an sich, sondern sie lehnen deren heutige, beziehungsweise im neuen unübersichtlichen und teilweise unleserlichen Vertrag vorgeschlagene neue Form der EU ab.

Genau dies macht nun die Situation für die EU so schwierig. Substanzielle Neuverhandlungen verweigern und die Iren zur Wiederholung der Abstimmung zu zwingen (sozusagen Abstimmen lassen bis es stimmt) wie dies Frankreichs Präsident Sarkozy ursprünglich wollte, wäre eine Beleidigung für die Iren und Wasser auf die Mühlen all jener vielen Europäer, die das gegenwärtige Kernproblem der EU im unterentwickelten Demokratieverständnis ihrer Spitzen zu erkennen glauben.

Was aber dann? Dazu hat es in der Süddeutschen Zeitung einen prominenten Disput gegeben zwischen dem derzeit wohl angesehendsten Philosophen Europas, Jürgen Habermas, und dem Vizepräsidenten der EU-Kommission, Günther Verheugen, welcher in der Schweiz bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde. Habermas deutete das irische Nein zum neuen Vertrag als Ausdruck eines allgemeinen Unbehagens in Europa über die EU, das viele EU-Bürgerinnen und Bürger teilen würden - eine These, der indirekt auch Sarkozy zustimmte, als er anfangs Woche in Dublin erklärte, er sei sich schon bewusst, dass die Franzosen derzeit mehrheitlich auch den Reformvertrag ablehnen würden. Habermas plädierte für die «Umstellung der europäischen Einigung auf einen bürgernahen Politikmodus». Es dürfe nicht länger sein, dass die (notwendige) Stärkung der EU zulasten der (bisher rein national ausgestalteten) demokratischen Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger erfolge.

Verheugen stimmt dem Projekt wie aus einer EU der Regierungen eine EU der Bürger werden kann zu, verstrickt sich aber in einem Gestrüpp, in dem auch hierzulande EU-Debatten schnell enden. So meint er, es könne nur dort Demokratie geben, wo es auch ein Volk gebe – und verkennt, dass wir in Europa längst eine Bürgergesellschaft geworden ist, die transnational funktioniert und so auch abstimmen könnte. Weiter meint er, ein Bundesstaat sei mit einem zentralistischen Superstaat gleichzusetzen, in dem die Menschen ihre regionalen Identitäten verlören – als ob die Schweiz nicht der Staat wäre, in dem die Kantone und Gemeinden so viel selber bestimmen können wie nirgendwo sonst auf der Welt und als ob die Menschen nicht schon längst, wie in allen Bundesstaaten, Mehrfachidentitäten entwickelt hätten.

In seiner Replik macht Jürgen Habermas meines Wissens zum ersten Mal in seinem Werk einen positiven Verweis auf die Schweiz. Er plädiert für eine Straffung des Vertrages und dessen Vorlage zu einem europaweiten Referendum mit einer doppelten Mehrheit (Völkermehr und Staatenmehr als Zustimmungserfordernis) und würde denjenigen EU-Mitgliedern, deren Bürger mehrheitlich ablehnen, immer noch frei stellen, wie sie ihre Zukunft gegenüber der EU gestalten wollen.

Eine Diskussion, welche erst angefangen hat, noch lange dauern wird, für die Zukunft der EU entscheidend ist , aber schon zu Beginn zeigt, wie wichtig sie für die Schweiz ist und wie sehr wir mit unseren Erfahrungen sie bereichern können.


Kontakt mit Andreas Gross



Nach oben

Zurück zur Artikelübersicht