29. Mai 2008

Aargauer Zeitung

Obamas konkrete aussenpolitische Utopie:
Die Würde des Menschen im Vordergrund


Von Andreas Gross
Andreas Gross ist Politikwissenschafter, Nationalrat (Zürich) und Vorsitzender der SP-Fraktion in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Strassburg


Die Ideen und Projekte mögen noch so überzeugend sein – mit aussenpolitischen Alternativen hat noch nie jemand irgendwo auf der Welt eine Wahl gewonnen. Schon gar nicht in den USA , wo die Gewählten zwar die Lebenswirklichkeit von Milliarden von Menschen ausserhalb der USA schwer beeinflussen, doch in ihrer Mehrheit nicht einmal über einen Reisepass verfügen.

Doch für die ganze Welt gab und gibt es seit Monaten keine Wahl, die ihre Aufmerksamkeit so fesselt und deren Ausgang so weit reichende Auswirkungen haben wird wie die amerikanischen Präsidentschafts-wahlen. Die Intensität dieser Aufmerksamkeit und die Grösse der damit verbundenen Hoffnungen sind umgekehrt proportional zur Tiefe der Enttäuschung darüber, wie verheerend die weltinnenpolitische Bilanz des im Januar 2009 endlich abtretenden US-Präsidenten aussieht.

Höchst wahrscheinlich unterstellt die jahrelange, milliardenschwere Inszenierung dieser Wahl dem Amt eine Bedeutung und dem Gewinner eine individuelle Handlungsmacht, die grösser ist als die, die er real tatsächlich wird einmal wahrnehmen können. Dennoch gibt es kein anderes politisches Amt auf dieser Welt, dessen Inhaber für alle Weltbewohner so bedeutsam ist wie dasjenige des US-Präsidenten. Deshalb möchten ihn ja auch alle gerne mitwählen (Al Gore hätte bestimmt eine klare Mehrheit), schliesslich sind auch die meisten von seinen Entscheidungen betroffen – eine weltinnenpolitische Utopie! Dennoch oder gerade weil dies (noch) nicht so ist, ist es wichtig, möglichst frühzeitig herauszufinden, wie dieser Mann – Hillary’s Chancen sind mittlerweile auf Null gesunken – mit der Welt umzugehen gedenkt.

Das von einem Kandidaten für ein solches Amt vor der Wahl herauszufinden ist freilich mehr als schwierig. Seine Reden sind im besten Fall Wegweiser. Fast scheint es so, dass, je näher der Termin rückt und je mehr geredet wird, umso weniger ersichtlich wird, was ein Kandidat wirklich denkt und will. Zu häufig wird bloss das gesagt, was das ausgewählte Publikum hören will. Zu sehr wird die Wahl in der sogenannten Mitte entschieden und so mitten sich alle sehr schnell ein – bis zur Unkenntlichkeit.

Spencer Ackerman, Mitarbeiter der linksliberalen Zeitschrift American Prospect, versuchte es dennoch und zwar beim Bewerber der Demokraten, Barack Obama, der ohnehin über vergleichsweise viel Profil verfügt. Ackerman hörte Obama nicht nur genau zu, sondern sprach sehr intensiv mit seinem illustren aussenpolitischen Beraterteam – und entdeckte so etwas wie eine Obama-Doktrin.(1)

Den Anspruch dieser Doktrin formulierte Senator Obama Ende Januar in Kalifornien: Ihm ginge es nicht nur darum , den Krieg im Irak zu beenden, sagte er: «Mir geht es darum, die Gesinnung zu ändern und zu überwinden, die uns überhaupt in diesen Krieg getragen hat.» Wobei der schöne amerikanische Begriff des mind set viel mehr ist als eine simple, meist individuell begründete Gesinnung. Damit stellt Obama eine ganze Denkweise in Frage, gleichsam die Brille, durch welche der die Bushadministration leitende militärisch-industrielle Komplex (Ein Begriff des früheren Generals und republikanischen US-Präsidenten Eisenhower) die Welt missverstand.

Obamas aussenpolitisches Beraterteam - sieben Spezialisten mit grossem Schulsack und entsprechender Erfahrung bekamen den Auftrag auszudeutschen, was denn dieses Denksystem ausgemacht hat, das die USA in den Irakkrieg trieb, und wie dessen Überwindung aussieht.

Heraus kamen zentrale Kategorien einer neuen US-Aussenpolitik, welche ein Präsident Obama umsetzen will: Überwunden werden soll eine «Politik der Angst». Sie soll ersetzt werden durch eine Politik, welche «die Würde der (anderen) Menschen» ins Zentrum stellt. «Demokratie reicht nicht», sagt beispielsweise die Politikprofessorin, «denn sie füllt keine Mägen, bietet noch kein Dach über dem Kopf, rottet die Malariafliege nicht aus und schützt die Armen nicht vor Banditen.» So lange es Elend gebe und die Würde der anders denkenden und anders gläubigen Menschen nicht be- und geachtet werde, würden Demagogen immer neue Terroristen rekrutieren können.

Die Politik der Angst überwinden heisse, dafür zu sorgen, dass nirgends mehr auf der Welt jemand existenziell Angst haben muss. Würden alle spüren, dass die USA deren Würde nicht nur respektiere, sondern rekonstruieren helfe, dann würde auch niemand mehr die USA angreifen wollen.

Der Journalist Ackerman ist davon überzeugt, dass seit Roosevelt anfangs der 1940er Jahre kein US-Präsidentschaftskandidat eine derart radikale Wende in der US-Aussenpolitik mehr angestrebt hat wie Obama. Uns Europäer kann dies nur freuen. Denn wir wissen, dass die Würde des Menschen auch der Kern unseres Menschenrechtsverständnisses ist. Wenn in Zukunft beidseits des Atlantiks die Wahrung und Achtung dieses Kerns im Zentrum der politischen Anstrengungen ist, dann darf die Welt von einem US-Präsidenten Obama tatsächlich einiges Gutes erhoffen.


Kontakt mit Andreas Gross




Nach oben


Anmerkungs-Nr. 1

Der Originaltext mit über 100 LeserInnen-Reaktionen
ist zu finden unter www.prospect.org



Zurück zur Artikelübersicht