01.06.2006
Aargauer Zeitung
Mittellandzeitung
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Der Widerspruch der kommenden Tage
Multinationale in National-Teams
Von Andreas Gross
Andreas Gross ist Politikwissenschafter, SP-National- und Europarat und verdiente sich sein Geschichtsstudium in Zürich zwischen 1972 und 1975 als Sportjournalist. Seither schrieb er immer wieder fussballphilosophische Kolumnen.
Wären die Fussballer des schweizerischen Nationalteams Franzosen, dann würden in Frankreich viele wie schon 1998 und 2000 von erfolgreicher Integrationspolitik reden.
Damals war die Mehrheit jener, die mit einem begeisternden, schnellen und angriffslustigen Fussball Frankreich zum Welt- und Europameister maachten, Söhne und Enkel von Einwanderern und Übersiedlern aus Nordafrika und den französischen Überseegebieten. Dass die daraus damals abgeleiteten integrationspolitischen Leistungen mehr Mythos als Realität waren - wobei jeder Mythos immer auch ein kleines Stück Wahrheit enthält - zeigte sich in den Vorstädten von Paris während des vergangenen Herbstes. Es waren Jugendliche aus ganz ähnlichen kulturellen Umfeldern, welche mit ihren abendlichen gewaltsamen Saubannerzügen das ganze Land wochenlang in Atem hielten. Sie fühlten sich im eigenen Land sozial und wirtschaftlich ausgegrenzt. Sie sahen und sehen sich immer noch als Fremde im eigenen Land, daheim und doch nicht zu Hause.
In der Schweiz sind wir mit dem Stolz auf politische Eigenleistungen etwas zurückhaltender. Zwar wissen viele, wem sie ihre nationalen Identifikationsmöglichkeiten an der kommenden Fussball-WM in Deutschland zu verdanken haben. Keinen Tellen-Söhnen, sondern Jungen, deren Eltern aus Italien oder Spanien zugewandert sind und in einer St. Galler, Genfer und Zürcher Fabrik arbeiten. Söhnen von Eltern, die als Flüchtlinge aus dem kriegsversehrten Kosovo in der Schweiz Schutz suchten und nur dank dem Engagement eines Tessiner CVP-Regierungsrates nicht wieder abgeschoben worden sind, oder aus dem wirtschaftlich darniederliegenden albanischen Teil von Mazedonien bei uns eine neue ökonomische Zuversicht suchten - der Gegend Europas übrigens, wo die Schweiz bis heute ganz eigenartigerweise einen unglaublich positiven Zuspruch geniesst. Das ist im fussballinteressierten Teil der Türkei bestimmt anders, wo freilich die türkischstämmigen Yakin-Brüder weniger reüssierten als in Basel und bei GC.
Doch daraus jetzt gleich auf eine besonders gelungene Integrationspolitik der Schweiz gegenüber den Jugendlichen ausländischer Eltern zu schliessen, liegt uns etwas ferner als den Franzosen. Zu sehr sind uns unsere Defizite bewusst. Zu sehr machen uns die Geschwindigkeitsexzesse vieler Jugendlicher aus Albanien, Montenegro, dem Kosovo oder Serbien auf hiesigen Strassen deutlich, dass sich viele von ihnen bei uns nicht zu Hause fühlen - oft kann erst, wer Zuneigung erfährt oder erfahren hat, Liebe und Rücksicht auch zurückgeben. Wir haben die Gäste, die eigentlich gerne bei uns bleiben würden und folglich mehr als Gäste sind, nicht immer als Freunde behandelt. Wir brachten die Kraft dazu nicht immer auf.
Unsere multikulturellen Fussballnationalspieler scheint das alles freilich nicht weiter zu stören. Sie haben dank dem Hobby und dem Zuspruch ihrer Väter, der Aufopferungsbereitschaft ihrer Mütter und grossen eigenen Anstrengungen die Infrastruktur des schweizerischen Fussballs genutzt und sich mit ihrem Talent eine Existenzgrundlage geschaffen, die ihnen ausserhalb der Sportwelt wohl verwehrt geblieben wäre. Sie spielen seit Jahren in schweizerischen Junioren-Nationalteams und wurden - schon damals mit Köbi Kuhn und dessen Assistenztrainer Pons als Coachs - Europameister.
Dank dieser Leistungen setzten sie sich nicht nur in der Schweiz durch, sondern diese führten sie darüber hinaus wieder (zurück) in das grosse Europa: Senderos, mit spanischen Wurzeln, behauptet sich heute beim Championsliga-Finalisten Arsenal London, bei dem unter dem Elsässer Wenger zwar vier Franzosen, aber fast keine Engländer mehr spielen. Behrami, das Flüchtlingskind aus dem Kosovo, setzt sich heute in Rom durch, wie Barnetta, der St. Galler Fabrikarbeitersohn mit italienischem Blut, bei Leverkusen - wobei er als wohl derzeit grösstes Talent des Schweizer Fussball sehr bald in der europäischen Spitze, also in Italien, Spanien oder Grossbritannien engagiert werden wird. Und Blerin Dzemaili (Vater aus Mazedonien), dem der FCZ die Meisterschaft verdankt ebenso wie vor drei Jahren GC Ricardo Cabanas (Vater aus Spanien) wird diesem wohl eher früher als später in die deutsche Bundesliga folgen.
Die Pointe meiner These, wonach das unsrige wie die meisten europäischen Nationalteams fast vollständig aus ausgesprochen multikulturellen Multinationalen bestehen, liefern diejenigen, die man zu den einheimischeren Schweizer Nationalspielern zählen könnte: Doch die fast perfekt drei- und viersprachigen Genfer Vogel und Müller sind in den Niederlanden und Frankreich sogar schon mehrfach zu nationalen Meisterehren gekommen, der eine Degen-Zwilling aus dem Baselbiet spielt schon in Dortmund, der andere will Basel Richtung Hamburg verlassen. Marco Streller aus Aesch (BL) spielt von Köln kommend bald wieder in Stuttgart; Alex Frei, ebenfalls aus Aesch, war mit Rennes schon Frankreichs Torschützenkönig und verhandelt mit Dortmund; Ludovic Magnin aus Sitten war mit Bremen schon deutscher Meister und spielt jetzt auch in Stuttgart.
Also aufgepasst: Diejenigen, die in den kommenden Wochen all den nationalen Taumel generieren, sind gerade deswegen so gut, weil sie dem Nationalen geistig und beruflich schon lange entwachsen sind. Das ist die Leistung, die uns inspirieren könnte.
Andreas Gross
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