5. Jan. 2006
Aargauer Zeitung
Mittellandzeitung
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Keine Verkümmerung des Politischen
Ein Neujahrswunsch der besonderen Art
Von Andreas Gross
Zürich / St.Ursanne, ist Politikwissenschafter und präsidiert derzeit im Nationalrat die Staatspolitische Kommission.
Heute gibt es für jedes Detailproblem einen Experten. Das sind jene, die von immer weniger immer mehr zu verstehen vorgeben. Und uns übrigen Menschen wird nahe gelegt, dass wir doch von immer mehr immer weniger verstehen würden und deswegen eben immer mehr auf die Experten hören sollten.
Seltsam freilich, dass trotz diesem Expertenkult und dieser Art von Detailversessenheit immer mehr Lebensfragen immer mehr über den gleichen Kamm geschert werden, den Kamm der Ökonomie. Ob in der Liebe, in der Familie, im Sport, in der Musik, in der Arbeit oder an der Börse: Überall wird investiert, optimiert, rationalisiert; es muss überall rentieren, das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmen, es gibt überall einen Markt mit Angebot und Nachfrage, der Aufwand muss sich lohnen, und zwar sofort, Leerzeiten sind verpönt, immer just in time, entsprechend müde sind wir und kämpfen vor dem Schlaf auch noch um den Schlaf.
Doch wer sagt, dass die Liebe gleich funktionieren muss wie eine Fabrik? Hat einer wirklich schon bewiesen, dass eine Familie mit derselben Leadership ebenso erblüht wie ein Unternehmen, eine Kompanie oder eine Regierung? Ist ein erfolgreicher Unternehmer wirklich automatisch ein grosser Staatsmann?
Etwas ist dann selbstverständlich und herrscht vor, wenn es nicht mehr in Frage gestellt wird oder entsprechendes Nachfragen verpönt ist und zu Vielen überflüssig erscheint. Dennoch möchte ich die gegenwärtige Hegemonie des ökonomischen Denkens über alle Lebensbereiche grundsätzlich in Frage stellen. Die ordnungspolitische Gleichschaltung von Wirtschaft, Politik, Kultur, Partnerschaft und Sport ist verhängnisvoll und führt zur Verkümmerung all dessen, was sich ökonomisch nicht rechnen lässt. Wir sollten wieder die kleineren und grösseren Unterschiede beachten lernen.
Exemplarisch lässt sich dies an der Gleichschaltung von Politik und Wirtschaft illustrieren. In der Wirtschaft geht es um die Reproduktion dessen, was wir zum Leben nötig haben. Ein berühmter Philosoph sprach in diesem Zusammenhang vom «Reich des Zwangs oder der Notwendigkeit», während der Sinn der Politik die Freiheit ist. Und zwar nicht die Freiheit der Wahl zwischen verschiedenen, von anderen angerichteten Angeboten oder "Optionen" - das wäre eben die ökonomische Reduktion der Politik und der Freiheit -, sondern die Freiheit zum gemeinsamen Handeln mit anderen, so dass wir gemeinsam auf unsere Lebensgrundlagen einwirken können und das Leben nicht als Schicksal erdauern müssen.
Immer wieder kommt es zu entsprechenden Erfahrungen von gelungenem gemeinsamen politischen Handeln, zu Momenten, in denen viele merken, dass sie durch ihr Engagement Wesentliches verändert haben und das ohne ihr Handeln so nicht Wirklichkeit geworden wäre. Letztmals war dies in der Schweiz vielleicht am vergangenen Abstimmungssonntag der Fall, als erstmals in der Geschichte der Direkten Demokratie auf Bundesebene eine von Bundesrat und Parlamentsmehrheit bekämpfte Volksinitiative (Moratorium gegen genmanipulierte Nahrungsmittel) sich in allen Kantonen durchsetzen konnte. Zuvor gewiss 1994, als eine ähnliche Koalition zwischen Stadt und Land der Alpen-initiative zum Durchbruch verhalf, oder 1989, weltweit mit dem Fall der Berliner Mauer und schweizweit mit dem Fall der Armee als Heiliger Kuh, die jahrzehntelang nicht in Frage gestellt werden durfte. Solche politischen Glückserfahrungen machen nach der Philosophin Hannah Arendt (1906 bis 1975), der Denkerin "ohne Geländer", die den Linken zu liberal und den Liberalen zu links war, «Lust auf Freiheit» und somit «Lust auf Politik».
Wer die ganz grundsätzlich unterschiedlich strukturierten Lebensbereiche Wirtschaft und Politik aber gleichstellt und diese Ordnungsdifferenzen verkennt, wird einem banalisierten Verständnis von Demokratie und Freiheit zum Opfer fallen und dabei ganz nebenbei auch die republikanischen Stärken der in der Schweiz geltenden Direkten Demokratie verkennen. Denn wer sich in der Politik und der Wirtschaft gleich verhält wird mindestens in einem Bereich kläglich scheitern. Was in einem Fall stimmt, ist im anderen Bereich hinderlich oder sogar falsch.
So kann einer an der Börse alleine und mit etwas Sachverstand und viel Glück durchaus reich werden; in der Politik kann einer alleine und auch mit viel Sachverstand aber nur verzweifeln - um handeln zu können muss ich mich mit anderen zusammen tun, mindestens mich auf viele andere einlassen, mich mit ihnen absprechen, verständigen. Geld investieren sollte ich nur in ein Unternehmen, von dem ich mich zuvor vergewissert habe, dass es mein Geld nicht in den Sand setzt; politisch handeln muss ich auch dann, wenn ich vom Erfolg meines Handelns noch nicht überzeugt bin. Wer politisch erst dann handelt, wenn der Erfolg garantiert ist, kommt immer zu spät, beziehungsweise dessen Tun war überflüssig, denn Andere haben zuvor das Wesentliche schon geschafft. Passiv lässt sich vielleicht das Schöne konsumieren, frei sein können wir aber nur aktiv, in dem wir handeln, wie wir glauben handeln zu sollen.
Sollten Sie an der Relevanz der Beachtung dieser Unterschiede zweifeln, dann fragen Sie mal ihren Freund oder die Kollegin, weshalb sie sich nicht mehr politisch engagiert. Die Antwort wird nicht bezweifeln, dass politische Veränderungen nötig wären, sondern mehrheitlich fragen, «ob es sich denn lohnt» - das heisst die ökonomische Rationalität wird unbedacht und vielleicht auch unbewusst aufs Politische übertragen. So verkümmert aber das Politische - eine Tendenz der wir uns im Wissen um diese Unterschiede widersetzen sollten. Nicht nur zu Beginn, sondern während des ganzen Jahres.
Andreas Gross
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