18.10.2004

Tages-Anzeiger

Zur Zukunft des schweizerischen Regierungssystems
Die SVP belagert die Konkordanz
und verändert sie - aber wie?


Von Andreas Gross

Andreas Gross, 52 ist Politikwissenschafter und Zürcher SP/National und Verfassungsrat. Er setzt sich seit Jahren mit der Reform des schweizerischen Regierungssystems auseinander und veröffentlichte dazu im vergangenen Winter auch das Buch EINE ANDRERE SCHWEIZ IST MÖGLICH *St-Ursanne 200 S., 19.80.

Sogar bezüglich der Diagnose sind sich die meisten uneins. Eine Staatskrise ist es nicht, denn weder das Fundament ist bedroht, noch droht die Schweiz auseinander zu fallen. Und die Regierung macht schliesslich bei uns ganz gewiss noch nicht den Staat aus. Eine Regierungskrise schon eher - doch nicht à l'italienne, denn wir haben noch immer sieben Bundesräte und keiner macht ihnen ihre Posten streitig. Ist es dann eine Krise der Konkordanz, oder bloss der Kollegialität; oder etwa eine Krise der alten politischen Mitte, der Begründer der modernen Schweiz, der FDP und der CVP? Stimmt einfach die Chemie nicht mehr im Bundesrat? Liegt Blocher bloss schwer auf dem Bundeshaus, ist er als unschweizerisch schwerer Machtbrocken einfach unverdaubar? Oder kann das System mit dem Machtanspruch der SVP nicht umgehen oder sind es bestimmte Grundsatzfragen, welche die "Classe politique", zu der ein Bundesrat Blocher gehört wie wenig andere, so auseinanderdividieren, dass sie im Bundesrat nicht mehr zueinander finden können?

Sicher ist: Es kommt derzeit im Bundesbern sehr viel auf einmal zusammen. Es ist, als ob Erdrutsche, Überschwemmungen, Hagelstürme und Blitz und Donner gleichzeitig über eine sonst eher ruhige Landschaft hereinbrechen. Die Menschen reagieren verstört, sie machen sich in allen Richtungen davon oder ziehen die Schultern ein und verkriechen sich in ihre Häuser. Eine lärmige Unruhe herrscht in und um Bundesbern herum. Jedenfalls keine Freude und schon gar keine Lust, ruhig und gelassen die einzelnen Bewegungen ins Wort zu fassen, versuchen, sie gemeinsam besser zu verstehen, die sich ergebenden Spannungen zu erörtern und mögliche Konsequenzen, beziehungsweise Alternativen so zu diskutieren, dass sich mögliche Handlungsperspektiven ergeben, welche den ins Rutschen geratenen Boden unter unseren politischen Füssen neu stabilisieren kann, so dass er notwendige Reformen zu tragen vermag. Versuchen wir es trotzdem. Machen wir einen Anfang.

Erstens zur Vorvergangenheit: In den vergangenen 20 Jahren hat sich eine zunehmend stärkere nationalkonservative Bewegung in der Schweiz der damals kleinsten, gewerblich ausgerichteten Bundesratspartei bemächtigt und sie zur grössten gemacht. Formiert im (verlorenen) Kampf gegen die UNO und der Renovation des Eherechtes, getragen von einem europafeindlichen, der Welt abgewandten Diskurs vermag die neue SVP Hunderttausenden von sprachlos gewordenen, verunsicherten, orientierungsarmen, leicht verbitterten Kleinbürgern eine Stimme zu geben, durch die sich diese vertreten fühlen. Obwohl diese SVP real in den Parlamenten im Interesse ihrer zweiten, ihr wichtigeren, zahlenmässig aber kleineren Klientel stimmt: Die kalten privilegierten mittleren und höheren Angestellten und Kader in den Banken, Versicherungen und anderen Finanzdienstleistern, für die es keine Gesellschaft sondern nur eine Wirtschaft gibt, keinen Gemein- aber viel Eigensinn und welche den Staat nur benötigen in seiner repressiven Seite und zur Sozialisierung eigener Verluste.

Zweitens zur Vorvergangenheit: Der rasante Aufstieg dieser nationalkonservativen SVP erfolgte insgesamt nicht zu Lasten der Linken, sondern vor allem der alten bürgerlichen Mitte, die richtiggehend einbrach. Die CVP war in ihren Stammlanden zu lange zu mächtig gewesen, wurde geistig träge und hatte der SVP wenig entgegenzuhalten. Die FDP liess sich zulange von der Anti-Staats-Bewegung Ende der 1980er Anfang1990er Jahre mittragen und merkte vor allem in der Deutschen Schweiz nicht, dass die SVP an den Festen jenes Bundesstaates rüttelt, den die FDP einmal stolz geschaffen hatte. Die Folge: 2002 und 2003 gab es in der Bundesversammlung praktisch keine Mitte mehr, welche die Vorlagen austarierte. Vielmehr glaubte diese Mitte, ihr elektorales Überleben in der Anlehnung an die SVP und mittels Ignorierung der Sozialdemokratie garantieren zu können. Fazit: Die Mitte rutschte am Wahltag noch mehr weg, die einseitigen und rücksichtslosen Vorlagen (Avanti, Steuerpaket, Vermieterschutz) wurden in den Volksabstimmungen 2004 abgelehnt.

Zur Vergangenheit, drittens, nach dem Wahltag 2003: FDP und CVP sowie wichtige Zeitungen wie der TA reduzierten die grosse, 1959 auch sachpolitisch verankerte Konkordanz auf rein quantitativen Regierungsproporz und plädierten für einen Bundesrat Blocher. Sie machten den "Oppositionsführer" zum Minister und illustrierten so, wie wenig sie ihn kennen - obwohl er seit 1979 im Nationalrat sitzt und sie in dieser langen Zeit so sehr geärgert hat wie kein anderer. Ein Jahr brauchte Blocher, um den Vorrat an gemeinsamer, aber sehr unterschiedlich verstandener Kollegialität zu verbrauchen. Vor zehn Tagen stellte sich ihm Pascal Couchepin in einer Deutlichkeit entgegen, wie dies ein Bundesrat mit einem Kollegen öffentlich seit 100 Jahren nicht mehr gemacht hat. Mit richtigen, sehr grundsätzlichen Argumenten gegen ein plebiszitäres, ja cäsaristisches Verständnis von Direkter Demokratie, welche illustrieren, wie hohl die Konkordanz ist, welche die Mehrheit der Bundesversammlung am 10.12.2003 gewählt hat.

Und was die Krise des politischen Selbstverständnisses innerhalb der bürgerlichen Eliten der Schweiz in der vergangenen Woche besonders gut zum Ausdruck gebracht hat: Die (deutschschweizerische) Mehrheit der FDP liess den staats- und sozial verantwortungsbewussten ihrer Bundesräte sofort im Regen stehen und kuschelte sich satt dessen lieber an die stachelige SVP, die nichts so gern tut, wie die FDP vorzuführen. Und die offizielle CVP wendet sich indigniert ab und glaubt weiterhin die beiden Pole SVP und SP gleichermassen auf Distanz halten zu sollen. Beide scheinen mir eine einmalige Gelegenheit verpasst zu haben: Nämlich die, entweder mit Couchepin an der Spitze eine moderne, echt liberale bürgerliche Mitte zu formieren und/oder mit der SP eine neues kompromissfähiges Gegengewicht zur SVP aufzubauen. Sie verpassten dies, wohl weil sie schon schwächer sind, als uns bewusst ist.

Auf dem Weg aus dieser Gegenwart in eine nicht nationalkonservativ bestimmte Zukunft gilt es einige überkommene Dogmen und einige echte Probleme zu bewältigen.

Zu den Dogmen gehört die falsche Vorstellung, die einzige Alternative zur grossen, alle wichtigen Parteien umfassenden Konkordanz sei das klassische Konkurrenzsystem. Vergessen wird, dass es auch eine kleinere Konkordanz gäbe zwischen den geläuterten FDP und CVP sowie der SP und vielleicht den Grünen. Dies wäre keine Koalitionsregierung im europäischen Sinn; dazu wäre die Partnerschaft in sich politisch zu spannungsvoll, die Grössen der Beteiligten, vor allem jene der SP und der FDP, zu ähnlich; es gäbe institutionell wie politisch keine Koalitionsführer und richtlinienkompetente Regierungsspitze sondern nach wie vor eine kollegiale Regierung der Gleichberechtigten, die aber stimmiger denkt, handelt und so mehr Kraft und Vertrauen zu entfalten vermag.

Die Einführung der kleinen Konkordanz wird mit dem neuen Recht einhergehen, dass Zwei Drittel der Bundesversammlung der Regierung das Misstrauen aussprechen dürfen und die Neuwahl des Bundesrates verlangen können. Das für den Fall, dass die kleine Konkordanz in der Bundesversammlung keine deutliche Mehrheit mehr hinter sich hätte.

Beides - kleine Konkordanz und Misstrauensantragsrecht - wäre durchaus vereinbar mit einer starken und lebendigen Direkten Demokratie, die so sehr verankert ist in der schweizerischen Gesellschaft, dass sie kein Politiker ernsthaft in Frage stellen kann. Beides hätte eine etwas höhere Konfliktintensität zur Folge - dafür eine konstruktive und nicht wie heute zu oft lähmende - , eine bessere Zusammenarbeit zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung sowie eine klarere, überzeugendere und vor allem rücksichtsvollere Reformstrategie. Selbst die SVP kann nicht mehr als zwei Volksinitiativen und drei Referenden jährlich verkraften; die schweizerische Gesellschaft und ihr politisches System vermöchte dies auch. Und auch eine kleine Konkordanzregierung dürfte, dies als weiterer Unterschied zu einer Koalitionsregierung, auch einmal eine oder zwei Volksabstimmungen verlieren, wenn sie willens und in der Lage ist, daraus die notwendigen Lehren zu ziehen.

Doch zwei echte Schwierigkeiten gibt es auf dem Weg in die andere Koalition tatsächlich: Die bisherigen Überlegungen zur Zukunft der CVP und der FDP beruhen auf einer nationalen Logik der schweizerischen Politik und deren nationaler Öffentlichkeit. Die Parteien, vor allem die beiden alten bürgerlichen, sind jedoch vor allem kantonal verwurzelt und weniger national bestimmt. Sie sind in vielen Kantonen - VS, SG, AG, SO, LU - die beiden grossen traditionellen Antipoden; sie zusammenzuführen auf Grund einer Logik der Bundespolitik bedarf es schier unglaublichen Überzeugungskraft.

Die zweite grosse Herausforderung für die neue wie alte politische Mitte der Schweiz: Sie muss lernen, über den Bilateralismus hinaus europapolitisch Farbe zu bekennen. Da ist die SVP eindeutig. Sie vertritt ebenso ein vormodernes Verständnis der Nation, ebenso wie sie ein Verständnis der staatlichen Souveränität hat, das eher dem 19. Jahrhundert entspricht als dem des 21. Jahrhunderts; ebenso wie sie in den demokratischen Rechten Privilegien des Schweizertums sieht und weniger ein Menschenrecht. Aus diesen Haltungen speist sie ihr mehrfaches Nein zur europäischen Integration. Wer hier unsicher ist, wird von der Macht der SVP aufgesogen. Hier muss sich anders entscheiden, wer ohne die SVP eine neue und moderne Regierung der Schweiz bilden möchte. Hier liegt auch die eigentliche Überzeugungsarbeit, welche diejenigen leisten müssen, die eine Alternative zur SVP wollen. Diese Frage ist wohl noch aufwändiger als die Arbeit an der Systemreform, die wie die gegenwärtigen Stürme rund um das Bundeshaus illustrieren, auch nicht ohne sein wird.

Die Alternative zu dieser progressiven Anstrengung wäre nicht weniger mühsam, jedoch rückwärtsgewandt. Eine von der SVP dominierte Regierung, welche die Zukunft der Schweiz in ihrer Vergangenheit und als grosses Monaco sehen würde.

Andreas Gross



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